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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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E rwachen im Werden. Während die Wimpern den ersten Lidschlag tun, die Trägheit des Auges kein Bild, ein Muster bloß produziert, während das alte »Es träumte mir« in ein »Ich träume« und das »Es denkt mich« in ein »Ich denke« übergeht, entsteht mit dem beginnenden Tag die erste Frage: Wo stieß mir dies Ich zu, das gerade denkt, als habe es nie gedacht? Was wollte das Bewusstsein, als es wurde?
     
    Die junge Mutter schreit unter Presswehen. Die Amme schlägt über dem Schoß die Hände zusammen und frohlockt:
    »Es ist ein Kind! Ein Kind!«
    Nicht lang, und dieses Kind steht nachts im Schlafzimmer der Mutter und weint:
    »Mein Gehirn hört nicht auf!«
     
    Die Bewegungsform des Kindes, das war das Laufen mit herabgelassener Hose in so kurzen Schritten, wie es die Klammer des Hosenbundes eben zuließ. Ich muss mich wohl in dieser Aufmachung ständig von einem Fleck zum anderen bewegt haben. Deshalb ist die früheste und präziseste Vorstellung vom Laufen mit der Einschränkung des Laufens verbunden.
     
    Ein winziger Hund mit den traurigen grauen Augen eines Trinkers, der immer hart am Rande der Tränen gebaut hat. Er besitzt das Profil einer Göre von Toulouse-Lautrec, stupsnasig und mit einer Strähne über der Stirn. Vor dem Haus werden Laub und Zweige verbrannt, der Geruch der Rauchwolke kommt süß und holzig herüber und mischt sich mit dem Geruch der frischgemahlenen Kaffeebohnen, die gerade noch in der Mühle knirschten. Der Hund dreht sich im Rauch wie zum Tanz.
     
    Die junge italienische Mutter, die zweimal kurz hintereinander ihre rechte Brust herausholt und dem Kleinkind gegen das Gesicht schwappen lässt, als wolle sie es ersticken. Das Kind blökt. Die Mutter zieht eine Grimasse, als habe ihr Liebhaber, dieser nachgemachte Affe, sie zurückgewiesen.
     
    Ein Erwachen: Ich komme in den Briefen meiner Mutter vor. Sie schreibt an meinen Onkel: Er ist in der Schule als Spanierin aufgetreten, er hilft im Garten, sein Lieblingsbuch heißt »Robert, der Schiffsjunge«. Meine Mutter liest mir einen Brief dieser Art wie zur Belohnung vor. Ich bin in diesen Zeilen der »gute Junge«, der ich für mich selbst nicht bin. Aber er interessiert mich. Gerne würde ich mehr von ihm erfahren. Hervorgebracht, wie ich nun bin, werde ich zur Figur in einer Familie von Figuren, ausgestattet mit einer Wirklichkeit, wie diese sie besitzen, wie »Robert«, wie »Freitag«, wie »Sigismund Rüstig«. Im Reich der Beschreibungen kann man Eigenschaften erwerben, die man für sich selbst nicht hat. Das Ich entsteht in einer Vermutung über dieses Ich. Sie fragt nicht, wer ich bin, eher, wer könnte ich sein?
    Abends nehme ich deshalb meiner Schwester das Besteck aus der Hand, ziehe auch Essig und Öl heran und sage:
    »Lass mich mal machen. Ich versteh was von Salat.«
     
    Ein Schulweg voller Astern. Fräulein Kaskel mit ihrer feinen, durchscheinenden Haut und ihrem schwebenden Gang kommt auf dem Weg zur Schule durch die Felder. Sie hätte schön sein können, ohne ihre defensiv vorgetragene Religiosität, die sich anfühlte, als lebe sie ungesund mit dem Herrn. Ihr Unterrocksaum hat sich hinten gelöst und schaukelt, einer Gardine ähnlich, auf der Höhe ihrer Kniekehlen. So feixt die kleine undisziplinierte Erinnerung, lebendiger als alles, was Frau Kaskel mir je vom Herrn gesagt hat.
    Schau, das übersprungene Leben, das mit dem schweifenden Blick bloß überflogene. Der Unterrock ist zu sehen, damit sich die kleinen Jungen mit den Ellenbogen in die Seiten boxen, die Knie zusammendrücken, um sich bloß nicht in die Hose zu machen vor Lachen. Die Kaskel!
    An den Rändern von Aktionen spielen sich manchmal solche Szenen ab. Als habe das Leben keine Kraft, sich überall gleichermaßen zu konzentrieren! Frau Kaskel ist darin wie ein Schmetterling ohne Flügelschlag, einer, der auf den Bahnen eines nicht sichtbaren Auftriebs gleitet. So verschwimmt die Natur: das Schwirren der Libelle, die in der Luft steht, der Rand der Wolke, die Ausdehnung der Flechte, der trübe Schimmer des Spinngewebes, das Wegstreben der Wiesenfläche, der Glast,
the mist
, der Dunst, der Hauch, der zitternde Spitzensaum eines Unterrocks.
     
    Der Geruch des Pfarrers ist der gleiche wie er von den klebrigen Zellophanfolien der Bände aus der öffentlichen Leihbücherei ausgeht. Dazu das angegraute Beffchen, das unfrische Hemd, die weißen Haare auf den Händen und diese trockene, selbstgewisse, ordentliche Art, von Gott zu reden! Sein Glaube
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