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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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an: Sie küssen sich wie an ein Sauerstoffgerät angeschlossen, umklammern sich wie den Balken auf hoher See. Es geht immer um alles, sie küssen an allem vorbei, auf das ganze Leben zu und werden diesen Kuss am Ende vielleicht doch vergessen, während er den Betrachtern erhalten bleibt.
     
    Was man als ein Ideal empfindet, ist manchmal Ausdruck ohne Bewusstsein, und manchmal reicht ein Kinderfoto, dies festzuhalten. Da steht Béla Bartók mit seiner Schwester Elsa. Er fasst sie in seinen Arm ganz fest, so sehr braucht er sie. Ihre Hand dagegen hat sie auf seinem Oberschenkel gestelzt abgestellt wie die Füße eines Vogels, als kratze, als scharre sie in den Falten seiner Pumphose. Zwei große dunkle Augenpaare tauchen in den Blick des Betrachters. Das Tuch ist fein, das Schuhzeug gelackt. Die Kinder stieren in eine Zeit, ein Medium und einen Blick.
    Das Foto verblaut an den Ecken, ein Riss läuft über die Gelatine, sie splittert. Während die Kinder immer noch unbeirrt, aber eingeschüchtert in die Zukunft schauen, platzt das Bild mit diesem Blick, platzt es von innen heraus.
     
    Mutter zum Sohn: »Was isst du da?«
    »Teilchen.«
    »Das hast du doch sonst nie gegessen.«
    »Schon.«
    »Was hast du denn da für einen Kratzer?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Das weißt du ganz genau.«
    »Weiß ich wirklich nicht.«
    »’türlich weißt du das, aber ich bin ja bloß deine Mutter. Da, steck den Stift ein, der geht nur verloren.«
    »Später.«
    »Nicht später, du vergisst ihn bloß wieder.«
    »Mutter, bitte.«
    »Hat die Tasche auch kein Loch?«
    »Nein.«
    »Lass mich lieber mal kucken.«
    »Bitte, Mutter, ich bin nicht mehr sechs.«
    »Jetzt tu bloß nicht so erwachsen. Und pass auf, du krümelst alles voll. Siehst du, ein Loch!«
    Stundenlang. Lebenslänglich.
     
    »Aber du hast es doch nicht da hineingelegt! Du bist doch gar nicht mehr ins Haus gegangen! Warum solltest du das denn tun? Du warst doch nicht noch mal an deinem Koffer! Aber das passt doch hinten und vorne nicht. Das ist so untypisch für dich. Oder hast du sie doch mitgenommen? So was machst du doch nicht.« Pause. »Ich kenn dich.« Indikativ.
    Als Kinder spielten wir: »Du wärst nach Hause gekommen, und ich hätte im Bett gelegen, du hättest mich erst nicht gesehen, dann wärest du …« Konjunktiv.
     
    Einmal nur ist in dem Dorf, so lange ich dort lebte, ein Verbrechen geschehen. Einmal nur hat der Polizist, den wir noch »Schutzmann« nannten, in einem Kriminalfall zu ermitteln, und er kopiert, was er aus dem Fernsehen kennt. Seine Uniform ist sein Ausweis. Sie erlaubt ihm jede Frage. Doch haben ihn die vielen Filme ein bisschen wirr gemacht. So läuft er denn herum wie Heinz Drache und baut sich schon auf der Straße zur Überlebensgröße auf: »Name des Vaters?« Er geht weiter. »Wo waren Sie gestern um 20  Uhr  30 ?« An der nächsten Ecke: »Woher haben Sie dieses Kleid bezogen?« Er drückt sich gewählter aus als sonst. Manche seiner Ergebnisse trägt er in ein Notizbuch ein. Ich bleibe ihm auf den Fersen. Wie eine Flipperkugel ist er, die vom Stromstoß der Antworten durch die Welt gepeitscht wird. Auch meine Mutter gibt Auskunft. Zwischendurch lobt er sie deshalb für ihre dichten Haare, und sie sagt den wunderlichen Satz:
    »Ach, früher sind in meinem Haar die Kämme zerbrochen.«
    Er schaut sie an, und auf dem Grund seiner Augen sind wie auf dem Meeresboden Flecken.
     
    In der Schule: Ich bin fast halbwüchsig, die Lehrerin ist von einer offensiv zur Schau gestellten Leiblichkeit, die ich nicht bemerke, besitzt aber die große, fleischige Nase eines Kasperles, die ich gar nicht übersehen kann. Als Gesamterscheinung schüchtert sie mich ein. Einmal muss ich einen Schüler zeichnen, wie er dasitzt, auf seiner Bank. Ich will, dass sein Kopf auf den Armen liegt, zur Seite geneigt. Also lege ich erst meinen Kopf auf die Seite und fahre mit dem Finger meine Halslinie nach, um sie von dort, aus dem Gefühl der Fingerspitzen, mit dem Bleistift auf das Papier zu übertragen. Die Lehrerin fängt meinen Blick auf, sieht mich unverwandt an und geradeaus. Ich zeichne die Halslinie, aber sie will nicht gelingen. Immer wieder radiere ich an dieser Linie herum, die Lehrerin tritt hinter mich, wirft einen warmen Körperschatten. Da fühle ich, während ich radiere und radiere, zum ersten Mal in meinem Leben eine geschlechtliche Erregung. Dann nimmt sie mir den Bleistift aus der Hand und zeichnet die Linie aus dem Handgelenk, indem sie mit
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