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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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all dies »Altwaren« nennen, »Verlassenschaften«. Im Augenblick aber ist die Wohnung noch so persönlich wie vor dem Aufbruch zu einer Reise oder wie beim Heimkehren. Sie besitzt eine Realität, die unfühlbar wurde, als sie vertraut war, und die vergessen werden musste, um jetzt endlich wieder wirklich werden zu können.
     
    Im Frühsommer stirbt in seinem Bett der Onkel. Unter den Büschen im Garten rascheln die Hühnchen, und zwei, drei Frauen kommen auch ins Haus und weinen ein bisschen.
    »Wenn ich ihn nicht gehabt hätte«, sagt die eine, »hätte ich ihn nicht gehabt und großes Leid erlitten.«
    Dann weint sie wieder. Sie ist ihm ähnlich. Trotzdem verdirbt uns der Tote nicht den Sommer, die erste selbstgemachte Limonade, im Herbst das Pilzesuchen und das Schulfest. Der Sohn des Verstorbenen sagt:
    »Ich möchte mich gerne mit ins Grab nehmen.«
    »Hören Sie sich diesen Schmerz an!«, wehklagt die Nachbarin.
    »Bisschen dicke«, antwortet die Tochter.
     
    Aus der Finsternis tritt mir ein winziges Mädchen entgegen mit Augen, die unter einer Urban-Army-Mütze wie Leibesöffnungen klaffen. Auf seinen blauen Wollhandschuhen hält es ausgestreckt zwei unterschiedlich große Portionen Schnee.
    »Eis?«, fragt die Winzige.
    Das Wort schmilzt auf dem Weg zu mir. Ich kreise mit dem Finger über den beiden Handschuhen.
    »Von dem da ein bisschen.«
    Das Mädchen löst von dem Haufen eine Portion ab, legt sie mir in die Hand. Dankend trage ich sie behutsam davon. Als ich mich umwende, ist das Mädchen Jahre älter geworden und feuert den Rest des Schnees hohnlachend auf ein parkendes Auto. Ich tue das Gleiche. Als sich unsere Augen treffen, sehen die ihren tollkühn aus: Wer ist hier erwachsen?
     
    Von allen kleinen Jungen, die man nach dem großen Sommer nach ihrer liebsten Ferienbeschäftigung fragt, geben die meisten an »Fernsehen und Computer«, viele auch »Fußballspielen«. Ein einziger aber sagt: »Maulwurfshügel-Zertrampeln«. Man sieht ihn da in Gummistiefeln über die Felder kommen, über die Wiesen, in einer Mission, die ihn über den Horizont hinaus in die Erdkrümmung trägt, ein literarischer Mensch, eine Künstlerfigur. Er hinterlässt dieses eine, in sich stehende Bild, hinterlässt seinen Schatten. Kann sein, dass es sich schon um der Kindheit willen lohnt zu leben. Sollte selbst ihr Glück unfühlbar sein, kann es als Bild oder als Dämmerung später doch noch Erscheinung werden.
     
    Als ich zum ersten Mal in voller Vergegenwärtigung vor dem Meer stand, ertrank ich im Augenschein. Was wird aus den Dingen, die sich im Spiegel des Meeres reflektieren? Sind sie nicht alle noch da, die gesunkenen Schiffe, die Silhouetten der Frachter, die Flaschen sogar, die auf den Wellen tanzten? Ist das Schillern der Wellen also eigentlich der Tanz der winzigen, in ihnen gespiegelten Bilder? Nie wieder war die Brandung wie damals, als sie in jeder Welle eine Bilderflut war.
     
    Im Traum küsst mich Céline Dion, und ich wehre mich ganz fürchterlich. Davon wache ich auf. Es ist morgens um fünf. Als ein Geschlagener wanke ich in die Hotelküche, wo ein Mann sitzt mit zwei offenbar schlecht synchronisierten Glasaugen. Ich bitte ihn um eine Apfelsine, sie liegt neben ihm. Er sagt: »Ich muss an der Rezeption anrufen und fragen, wo die Apfelsinen sind.« Bin ich überhaupt erwacht?
     
    Ich sitze nachts unter den Bäumen. Durch die belaubten Kronen scheint ein Stern, als liege er auf einem Blatt.
     
    Wie sich die Zusammenhänge geändert haben: Als ich anfing, Sätze zu verstehen, war der Satz »Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende« nicht des Glücks und nicht des Endes wegen groß, sondern es war das Klima, in das er strahlte, ein Satz, dem Leben zufloss wie einem Reservoir. Ich hatte Häuser mit Fensterläden gesehen, Blumenstöcke, die Liebe war voller Küsse auf frische Wangen und voller Landwirtschaft.
    Inzwischen ist dieser Satz gekapert worden vom Bild des Glücks über der Halbfett-Margarine oder vom Geräuschdesign der zugeschlagenen Wagentür. Das alles soll Glück vermitteln, Dauer verheißen. Es ist, wie wenn die Frau in jener Krise, die man so nüchtern als »Partnerschaftskrise« bezeichnet, sagt: »Denk an die schönen Momente, die wir miteinander hatten.« Und der Mann blickt vor sich hin und kann sich nicht erinnern. Da waren Zeit, Strecke, Fläche, Raum, Wolkenkontinente und Klangabfall, doch wo sind die Momente?
    Zum Ausgleich sah ich mir, wo immer ich konnte, die jungen Liebespaare
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