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Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Titel: Pfarrers Kinder Muellers Vieh
Autoren: Amei Müller
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Der Wanderweg Nummer 3 und die Weisheit des Oberkirchenrats

    »Dieses Dorf gibt es nicht!« erklärte mein Vater, legte die Lupe nieder und verlangte nach einer Tasse Kaffee. »Wenn Manfred dort Pfarrer werden soll, muß es ein solches Dorf geben«, bemerkte meine Mutter mit zwingender Logik. Wir saßen über den großen Eßzimmertisch gebeugt und studierten Landkarten.
    »Was gebt ihr mir, wenn ich es finde?« fragte die kleine Gitti. Ohne Belohnung bereitete ihr Arbeit wenig Freude, aber für einen verlockenden Preis verrichtete sie auch die niedersten Dienste, ohne zu murren. Wenn es irgendetwas im Hause zu finden galt, und wir schon alle Hoffnung verloren hatten, setzten wir eine Belohnung aus, und sofort trat Gitti, meine jüngste Schwester, in Aktion. Sie kannte alle Schlupfwinkel. Ihre Augen waren geschärft vom Spicken durch Schlüssellöcher, ihre Ohren hörten alles, was sie nicht hören sollten, und klein wie sie war, kroch sie unter Betten und Schränke und brachte bald das Gesuchte zum Vorschein.
    »Ich fahre dich einmal mit dem Roller um die Kirche«, sagte Manfred.
    »Dreimal«, sagte sie. Er feilschte nicht lange und gab nach, er kannte seine Schwägerin.
    Was hatte ihn dieses Mädchen schon geärgert! Kam er während der Verlobungszeit zu uns auf Besuch und sanken wir uns in meinem Zimmer in die Arme, so sorgte Gitti dafür, daß wir nicht zu lange und zu innig in dieser Umarmung verblieben. Angestiftet von den fürsorglichen Eltern riß sie die Türe auf, um zu fragen, wann wir denn endlich mit ihr zu spielen gedächten. Oder sie versteckte sich schon vorher im Zimmer und brachte mit einem lauten »Buh!« unsere Verzückung zu einem jähen Ende.
    »Scher dich raus!« schrie ich.
    »Sei ein braves Kind!« sagte Manfred. Sie verschwand gekränkt, aber nur für kurze Zeit; dann erschien sie wieder in alter Frische. Schließlich gingen wir zur Bestechung über und stopften ihr Kekse in alle Taschen. Wir hofften, ihr damit den Weg zur Besserung zu erleichtern. Aber sie blieb ihrem Wesen treu. Manchmal ließ sie uns in Ruhe, meistens nicht. Wir konnten nie sicher sein. An den Besuchstagen schwelgte Gitti in Süßigkeiten und klagte abends über Bauchschmerzen. Als ich sie einmal im Garten erwischte, wie sie an ihre kleinen Freundinnen Schokolade verteilte, die nicht von uns stammte, mußten wir voller Trauer bemerken, daß sie schwach genug war, sich auch von anderer Seite bestechen zu lassen. Daraufhin stellten wir die Zahlung ein.
    »Ich hab es!« schrie sie jetzt und preßte den Daumen auf eine Wanderkarte. Wir beugten uns vor und betrachteten den schmutzigen Finger.
    »Du solltest dir ab und zu die Nägel putzen!« sagte mein Vater. Verärgert zog sie die Hand zurück.
    In einer großen grünen Fläche sahen wir einen kleinen Kreis, daneben ein Kreuz und darüber stand: »Weiden«. »Das Kreuz ist eine sehenswerte Kirche und der Weg dorthin der Wanderweg 3«, rief die Kleine triumphierend, »ich hab schon nachgeguckt!«
    Eine größere Straße war in der Wanderkarte nicht eingezeichnet, aber Pfeile am Rand zeigten an, von welcher Richtung man in das Gebiet eindringen konnte.
    »Ihr werdet zu Fuß dorthin gehen müssen«, bemerkte mein Bruder Michael, »aber vielleicht schafft ihr’s auch ein Stückchen mit dem Roller.«
    »Es könnte eine Holzfällersiedlung sein oder ein altes Kloster. Jedenfalls bekommt nicht jeder Pfarrer eine sehenswerte Kirche. Ich denke, das wird euch über vieles hinweghelfen.« Meine Mutter strich mir tröstend über den Kopf.
    »Vielleicht wohnt ihr in einer Blockhütte, dann besuch ich euch in den Ferien«, versprach Gitti. Ich hoffte inständig, daß das Pfarrhaus keine Blockhütte wäre.
    »Morgen fahren wir hin und schauen uns alles an«, sagte Manfred.
    Mutti eilte hinaus, um Proviant einzukaufen, falls wir uns im Walde verlaufen würden. Michael holte seinen Kompaß. In der Nacht schlief ich schlecht.
    Wir brachen früh auf. Man reichte uns einen prall gefüllten Rucksack und eine warme Decke, falls wir im Walde nächtigen müßten. Die Familie war vollständig versammelt. Sie drückten uns die Hände, klopften uns ermunternd auf die Schultern, riefen »Kopf hoch!« und »Man darf den Mut nicht verlieren!« und »Kommt gut wieder!« Gitti heulte laut. Dann fuhren wir davon.

    Die große Bundesstraße lag weit hinter uns. Seit einer Stunde holperte der Roller über Feldwege, durch Wiesen und Wälder, vorbei an schmucken Dörfern mit stattlichen Kirchen. Es war
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