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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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plötzlich, vom Hübschen allein, angeregt und beschenkt. Selbst der bittere Alte lächelt herbstlich. Klar, seine ausgeleierten Lippen dürsten nach Frühling.
     
    Eine Frau jenseits der siebzig, breit geworden, vierschrötig, aber mit einem großzügig geschnittenen, freigebig lachenden Gesicht, unterhält von der Rückbank eines Busses aus die Umsitzenden. Bald kann man nicht mehr erkennen, wer der eigentliche Adressat ihrer Erzählungen war, denn nun redet sie zu allen.
    »Im Krieg«, sagt sie, »wurde ich im Lazarett eingesetzt. Ich hatte meinen Erste-Hilfe-Kurs gemacht mit allem Pipapo, mehr nicht. Trotzdem hab ich nach Wochen schon die Spritzen gesetzt, gegen Tetanus, Rückenschmerzen, zur Impfung, alle diese Sachen.«
    Die Umsitzenden sehen nicht aus wie die dankbaren Abnehmer von Kriegsgeschichten, aber die Frau gefällt ihnen, die leichte süddeutsche Dialektfärbung der Stimme tut es.
    »Spritzen zu setzen ist nicht schwer. Wenn man die rechte Pobacke in vier Viertel teilt, muss man nur sorgen, dass man immer in das Viertel oben rechts reinsticht. Da kann man den nervus ischiatus nicht treffen und macht nichts falsch.«
    Mit der Hand teilt sie vor unseren Augen die Pobacke in vier Viertel, ehe sie dann die Spritze in das Karree oben rechts hämmert.
    »Ich mache das schon Wochen, da kriege ich raus, dass die mich in dem Lazarett heimlich ›die Heilige‹ nennen.« »Warum?«, frage ich. »Na, sagen sie: Sie sind doch die Einzige, die sich vor dem Arsch bekreuzigt, ehe sie reinsticht!«
    In dem einsetzenden Gelächter sind alle gleich. Jeder ist auf der Seite des Lachens. Ich kenne Männer, deren Glück es ist, Frauen zum Lachen zu bringen. Diese Frau bringt, wie ich erst jetzt bemerke, ringsum nur die Männer zum Lachen, und in der milden Zufriedenheit, mit der sie der Wirkung ihrer Pointe folgt, kann man ein Wohlgefühl erkennen, das vom Vertrauen auf die Geschichte, vom richtigen Erzählen der Geschichte, von der überraschenden Verwendung des Wortes »Arsch« ausgeht. Sie lacht wie eine Verschwörerin, nur ohne Verschwörung.
     
    Da ist eine Greisin auf dem Bürgersteig. Sie kommt fast jeden Tag, gestützt auf ihren Rollator. Alle fünfzig Meter rastet sie und sitzt in ihrem Gerät, die Sträucher anblickend, die Autos, die Fassaden, eine nach der anderen. Dann hustet sie in ihr Taschentuch. Dann prüft sie das Erhustete im Taschentuch. Und wieder die Sträucher, die Amsel über ihrem Kopf. Als ich herauskomme, um ihr ein Glas Wasser anzubieten, lacht sie ein überraschend junges Lachen, sagt nichts, zieht ein Messer aus der Tasche und schält sich ganz langsam einen Apfel.
    »Ein Glas Wasser brauche ich keineswegs«, sagt sie gedehnt und bedankt sich, die Schalen trudeln auf das Pflaster, ihr linker Fuß kickt sie weg. »Ich mache ja nur eine kleine Pause.«
    »Wie jung Sie sind«, sage ich impulsiv. Ihr Lachen steigt noch einmal, während die letzten Schalen fallen, und sie holt tatsächlich diesen Satz aus ihrem Gedächtnis, ohne eine Spur mimischer Koketterie:
    »Der Kopf ein Kind, das Übrige ein Bräutchen.«
     
    Nur ein einziges Mal ist an diesem Abend das alte, festlich gekleidete Paar beim Paar: als die Gläser sich in der Luft und die Blicke sich über ihnen treffen im Stillstehen einer Geste, die wohl seit vierzig Ehejahren identisch, aber nie bewusstlos vollzogen wurde. Sie ist die Fuge, in die das Leben immer wieder fällt. Und jemand macht ein Foto. Die Frau seufzt: »The way we were.« Schon in seiner Entstehung ist dieses Foto schwarz-weiß und wird Jahrzehnte später auf einem Flohmarkt überblättert von einem der denkt: Auch ihr ward am Leben. Und von da an trifft sie nie wieder ein Blick.
     
    Als der große Venezianer stirbt, ist er fast hundert Jahre alt. Noch einmal macht er sich daran, eine Pietà auf die Leinwand zu bringen, eine schwere, vom Tode bezirzte, gelb-braun verstandene, heute wie unter Harz liegende Komposition aus zwei Leibern. Keine Ornamentik, keine Nuancenschleckerei, bloß stiller Bombasmus, und weil er stirbt, geraten Tizian die Körper unter dem Pinsel zu etwas zwischen Fleisch und Stein, zwischen Muskel und Marmor. So erstarren sie, so erstarrt der Maler, so verlangsamt sein Werk und kommt zum Stehen.
    »No«, sagt die Reisende nach kurzer Exkursion in die Tiefe der Komposition zur Tochter, »it’s too busy for me.«
     
    Manchmal dringen die Alten am Ende ihres Lebens wirklich in eine Schlichtheit vor, die wie geläutert wirkt, wie eine letzte Klärung.
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