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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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ihre nicht kleine Brust heraus, streift die Jeans glatt, ist nicht einverstanden mit dem, was sie hört, missbilligt sogar, kapituliert, und wenn schon.
    Nur sie allein lebt in dieser Halle. Wir anderen haben es ihr überlassen, einen Existenzbeweis für uns zu erbringen. Gläser klingen, im hinteren Teil der Halle wird etwas auf Englisch durchgesagt, ein Signalton dudelt. Sie starrt erst auf das Display, zieht die Brauen hoch, dann beugt sie sich in die Stimme eines offenbar Monologisierenden, sieht böse verdüstert dem Reinigungswagen entgegen, knetet ihr Portemonnaie mit beringten Fingern, gähnt im Reden, lässt die Fingerspitze mehrfach auf die Zeitung stoßen, neigt den Kopf zum Hörer wie zu einem Kissen, beugt sich weit vor und blickt, weiter telefonierend, zurück in das eigene Dekolleté.
    Eine Stunde später wird ein übernächtigter junger Mann durch die Schleuse kommen. Sie wird Anlauf nehmen und mit beiden Beinen in seine Taille springen. Gleichzeitig setzen sich ihre Lippen auf den seinen ab und verlassen sie nicht. Sie küsst ihn, und sie küsst ihn. Sie ist eine andere jetzt, sie küsst ihn. Der Mann sagt:
    »Ich möchte …« Sie schneidet ihm das Wort ab: »Du möchtest gar nichts. Ich bin die Frau.«
     
    Eine Hotelhalle, gesehen durch den stummgeschalteten Fernseher. Auf dem Schirm der Reporter mit orangefarbener Notfalljacke, der in Gummistiefeln in einem Hochwasser steht und mit professioneller Erregung die Wasserstände kommentiert. Allerdings stumm. Aus dem Gerät blickt er auf eine Sitzgruppe, in der ganz allein eine Japanerin sitzt und weint, hat sie doch eben erfahren, dass ihre kleine Tochter, taub geboren, nicht für immer taub sein muss. Die ganze Welt des Hörbaren entsteht im selben Moment noch einmal neu vor den Ohren der Mutter.
     
    Ein rüstiger Alter ist aufrecht im Ruinenmeer von Fukushima gestrandet. Bis zum Horizont ist seine Welt von Trümmern bedeckt. Er ist klein, er ist alt, er muss sagen, was um alles in der Welt er hier will, und er sagt:
    »Ich suche meinen Personalausweis.«
    Während andere wirken, als hätten ihnen erst die Erwartungen der Welt das Weinen beigebracht, steht er und hält sich dabei an seinem Lächeln fest, als sei dies, bis zum Fund des Ausweises, seine Identität.
     
    Ich lehne lange nach Mitternacht, ein Rekonvaleszent des Jetlags, am Fenster eines Hotels in Tokio. Im rechten Winkel zu meinem Zimmer, aber weiter weg, steht hinter der Verglasung eine Frau meines Alters. Wir mustern uns. Mehrmals stellen wir uns in den nächsten Nächten in die Fenster, wie um uns gegenseitig zu betrachten. Zeichen machen wir nicht. Wir fühlen uns wie zwei einander gegenüberhängende Bilder im Museum. Eines Nachts entschließe ich mich, zu ihr zu gehen. Da kommt sie mir auf dem Flur entgegen. Wir schreiten aneinander vorbei und neigen nur die Köpfe. Das wird unsere letzte Begegnung sein. Seither rede ich mir ein, sie habe im selben Moment zu mir gewollt.
     
    Eine Stewardess gesteht mir in 11 000 Meter Höhe verschwörerisch, auf Langstreckenflügen höre sie Stimmen in den Wolken.
    »Es sind die Toten, die da reden«, sagt sie, »aber sie tun es nur über Meeren und Wüsten.«
    Ich lächele.
    »Das Universum lacht nicht«, raunt sie.
     
    Ich sitze mit einem Freund im Taxi, schweigend. Er beginnt, sich mit dem Fahrer zu unterhalten. Der Dialog wird zum Geräusch unter Geräuschen. Bevor wir aussteigen, werden sie beide jeweils eine spezifische Aussage getan haben, und beide werden versickert sein.
    Der alte Taxifahrer hat gesagt: »Ich bin von meiner Mentalität her sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich brauche meine Dolomiten.«
    Der Freund: »Meine Mutter lernt immer neue Fremdsprachen. Das liebt sie. Ich wünschte, ich wäre eine dieser Fremdsprachen.«
     
    Sie spricht von dem, was sie ihren »cauchemar« nennt. Ich hatte es nachsehen müssen, »cauchemar: der Albtraum«. Ihr »cauchemar« ist die Metapher für alles. Ihr Leben, ihr nervöses Temperament, ihr fahriger Charakter, ihre zügellose Rechthaberei, ihre finanziellen Verhältnisse, ihre Unfähigkeit, bei der Sache zu bleiben, ihre Radikalität in allem, ihre Eltern nicht zu vergessen, die Liebhaber noch obendrauf, dann die Freundinnen, es ist alles der Ausdruck des Gleichen: der »cauchemar«. Es sitzt auf ihr wie ein Unhold in der Malerei, wie der Incubus oder der Gnom im Fantasyfilm. Im Foyer eines großen Bürogebäudes spricht sie wieder von diesem »cauchemar«, seinen neuen Metamorphosen
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