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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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Die Bitte
1968
    Am Ende der Nacht, die alles verändern sollte, stand die Witwe auf ihrer Veranda und beobachtete, wie die junge Frau in einen Wagen, der auf der Einfahrt stand, gesetzt wurde. Das Mädchen wehrte sich nicht, gefesselt wie sie war, auch keine Schreie gellten durch den kühlen Herbstregen; demnach hatten der Doktor und seine Wärter gewonnen. Als sie die Türen zuschlugen, der Motor zum Leben erwachte und der Fahrer den Wagen den matschigen Hügel hinuntersteuerte, hatten sie keine Ahnung, dass die Witwe und das Mädchen auf dem Rücksitz sie soeben vor ihren Augen hinters Licht geführt hatten. Die Witwe wartete, bis die Rücklichter das Ende der Zufahrt erreicht hatten, dann drehte sie sich um und betrat das Haus. Und während sie am Fuß der Treppe stand, hoffte, dass der Doktor Gnade zeigen würde, und sich fragte, wo der flüchtige Mann abgeblieben sein mochte, hörte sie die Laute, auf die der Doktor nicht geachtet hatte. Dieses Geräusch würde sie für immer mit dem Mädchen verbinden und stets an den Mann erinnern – die süßen, tiefen Atemzüge eines versteckten Kindes, eines Säuglings.
    Der Novembertag verlief zunächst so wie jeder andere im Leben der siebzigjährigen Witwe. Der Briefträger lieferte die Post, Vögel flogen über die Felder nach Süden, Gewitterwolkenzogen über den Himmel von Pennsylvania. Die Tiere waren gefüttert, das Geschirr nach dem Essen hatte sie abgewaschen; die frisch geschriebene Korrespondenz lag im Briefkasten an der Straße, damit der Postbote sie am Morgen mitnehmen konnte. Es dämmerte. Die Witwe entfachte das Feuer im Kamin und machte es sich in ihrem Lesesessel bequem. Nachdem sie etwa dreißig Seiten gelesen hatte, öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regenguss machte so einen Lärm, dass die Witwe über die Schildpattbrille zum Wohnzimmerfenster spähte. Zu ihrer Überraschung prasselte der Regen so heftig hernieder, dass man kaum etwas durch die Scheibe sehen konnte. In einem halben Jahrhundert auf dieser Farm hatte sie so etwas noch nicht erlebt; sie würde morgen in ihren Briefen davon berichten. Sie zog die Lampe näher heran und senkte den Blick auf ihr Buch.
    Etliche Stunden blendete sie das tosende Unwetter aus und konzentrierte sich auf ihr Buch – eine Biografie von Dr. Martin Luther King, Jr., der erst vor wenigen Monaten einem Attentat zum Opfer gefallen war –, doch mit einem Mal weckte ein Klopfen an der Tür ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um. Kurz nach ihrer Hochzeit, als ihr Mann das Haus ausbaute, um Platz für eine Frau zu schaffen, merkte sie, dass ihm die Aussicht auf die weiten Felder, die dichten Wälder und fernen Berge und das farbintensive Himmelszelt nicht viel bedeutete. Er lebte hier, weil die Farm schon seinen Eltern gehört hatte und die nächste Stadt, Well’s Bottom, wo sie Lehrerin war, dreißig kurvige Meilen – eine Fahrtstunde – jenseits der Countygrenze lag. Während sie beobachtete, wie die Mauern wuchsen, fiel ihr auf, dass ihr Mann nur wenige, sehr kleine Fenster eingeplant hatte, und ihr wurde bewusst, dass sie sich mit spärlichen Ausschnitten der Landschaft zufriedengeben musste. Die Haustür war ganz aus Holz,ohne Glasscheibe, und nur ein einzelnes Fensterchen war in die Wand links daneben eingelassen. Aber das Unwetter minderte auch hier die Sicht. Die Witwe durchquerte das Wohnzimmer und drehte den Türknauf.
    Zuerst dachte sie, sie wären zu zweit. Ein Mann und eine Frau. Im Schein der Verandalampe sah sie der Mann, ein Schwarzer, erschrocken an, als hätte er nicht bemerkt, dass sich die Tür nach seinem Klopfen geöffnet hatte. Die Frau neben ihm schaute nicht auf. Sie war blass und biss sich auf die Lippe. Ihr Gesicht wirkte hager und ausgehöhlt. War sie wirklich so dünn? Das war unmöglich festzustellen, denn sie hatte sich in eine graue Decke gehüllt – nein, mehrere Wolldecken waren wie ein Cape mit Kapuze um sie drapiert. Der Mann hatte beschützend den Arm um ihre Schultern gelegt.
    Die Witwe wandte sich an den Mann. Auch er hatte sich geschützt, aber mit so etwas wie Plakaten, auf einem stand Gebrauchtwagen , auf dem anderen: Bis neun Uhr geöffnet . Die Witwe erkannte sie als Schilder von einem Händler in Well’s Bottom. Wasser tropfte von ihnen, genau wie von den durchweichten Wolldecken; eine Pfütze hatte sich auf der Veranda gebildet.
    Angst schnürte der Witwe schier die Kehle zu. Nach fünf Jahren Pensionierung waren ihr längst nicht mehr alle Gesichter aus
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