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Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Titel: Mitten in der Nacht
Autoren: Nora Roberts
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wüsste nicht, ob ich dann heute Morgen mit dir hier stünde.«
    Sie wollte die Blumen hinlegen, als Declan seine Hand über den Stängeln auf Lenas Hand legte. Sie legten sie gemeinsam aufs Grab – das Baby, das Mädchen, die alte Frau, alle vereint.
    »Er liegt ein Stück weg von hier«, brachte Lena heraus. Ihre Stimme war belegt, ihr verschwamm alles vor Augen, als sie sich abwandte.
    Schweigend gingen sie ihren Weg durchs Sonnenlicht und durch die Schatten.
    Die Gruft der Manets war ein hoch aufragender viereckiger Bau mit behauenem Portikus und dicken, eisenbeschlagenen Türen. Gekrönt wurde sie von einem grimmigen Engel, der seine Harfe hielt wie ein Soldat sein Schild.
    »Sehr heiter«, bemerkte Declan. »Ich würde behaupten, dass keinem von ihnen eine sanfte Ruhe vergönnt war.« Er sah sich um und entdeckte den schlichten Betonkasten auf einer aufrecht stehenden Platte. Auf der Tafel stand: LUCIAN EDUARD MANET. 1877–1900.
    »Er liegt hier draußen?«
    »Man hat ihm nicht verziehen«, erklärte Lena. »Nicht für seine Heirat, sein Kind, seinen peinlichen Tod. Man sagte, er sei versehentlich ertrunken, obwohl jeder wusste, dass es Selbstmord war. Aber obwohl Josephine ihn nicht in der Familiengruft haben wollte, sollte er doch in geweihter Erde begraben sein. Ansonsten hätte es noch einen Skandal gegeben.«
    Declan warf einen Blick auf die Gruft. »Miststück.«
    »Er hatte nicht wie ich Großeltern, die ihn liebten. Die die Schläge dämpften. Er hatte einen Zwillingsbruder, der ihn allein seiner Existenz wegen hasste. Er besaß Geld und Stellung, Erziehung und Privilegien. Aber keine Liebe. Bis Abigail kam. Dann nahmen sie sie ihm weg.«
    Sie legte die Blumen für ihn nieder. »Er konnte es nicht besser. Es reichte allerdings nicht.«
    »Du bist stärker, als er jemals war. Klüger, widerstandsfähiger.«
    »Ich hoffe es. Und ich hoffe, er findet bald Ruhe. In dieser Sonne werden die Blumen nicht lange halten, aber... Nun ja, man tut, was man kann.«
    Ohne ein weiteres Wort ging sie. Declan verweilte noch eine Minute länger, starrte auf die Tafel, dann auf die Blumen. Schließlich folgte er seiner Eingebung, zog eine Blume heraus und legte sie auf den Grabdeckel.
    Lena setzte ihre Sonnenbrille auf, während sie angestrengt Tränen wegblinzelte. »Das war lieb.«
    »Nun, man tut, was man kann.« Jetzt nahm er ihre Hand.
    Die Rückfahrt erfolgte wortlos. Als Lena vor dem BayouHaus parkte, kamen weder Miss Odette noch Rufus heraus. Declan schwieg, als Lena ihn zu Fuß durch das Marschland führte. Er schwieg, als er sich an den Weg in der Nacht erinnerte, die Kälte in der Luft, das huschende Mondlicht, den Schrei der Eule. Und den keuchenden Atem eines Mörders und seiner Komplizin.
    »Möchtest du zurück? Du bist furchtbar blass.«
    »Nein.« Trotz der Kälte unter seiner Haut lief ihm der Schweißüber den Rücken. »Ich muss das tun.«
    »Es ist nicht mehr weit.«
    Überall entlang des schmalen Trampelpfads schossen Sumpfblumen aus dem Boden. Auf diese, ihre Farbe, ihre unscheinbare Schönheit, konzentrierte er sich mit aller Kraft. Aber als sie am Ufer stehen blieben, war er außer Atem und ihm schwindelte.
    »Es war hier. Genau hier.«
    »Ich weiß. Marie Rose kam hierher, an diese Stelle. Ihr Herz wusste es.« Dieses Mal reichte sie ihm den Strauß und zog eine einzelne Blume heraus.
    Declan ließ die Blumen in den Fluss fallen und sah zu, wie sie auf dem braunen Wasser davontrieben. »Wer kann schon Blumen auf sein eigenes Grab legen?«
    »Es tut mir Leid.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es tut mir so Leid.« Sie kniete nieder und warf ihre Blume, damit sie allein für sich treiben konnte. Feste ergriff sie Declans Hand. »Es tut mir so Leid, dich verletzt zu haben.«
    »Das brauchst du nicht.« Er zog sie auf die Füße und in seine Arme. »Es ist schon gut.«
    »Er hat nicht genügend Vertrauen gehabt. Ich auch nicht. Zu viel Kummer und nicht genug Glaube. Aber jetzt.«
    »Es hat genug Kummer gegeben. Aber jetzt.« Er tippte ihr Gesicht nach oben. Und sprach aus, was er in sich – in Abigail – in dem Moment empfunden hatte, als er die Blumen zu Marie Rose gebracht hatte. »Ich verzeih dir.«
    »Du bist versöhnlicher, als sie es war.«
    »Mag sein. Eventuell ist das Grund, weshalb wir weitermachen. Weil es uns eine Chance gibt, wieder gutzumachen, was wir vermasselt haben.«
    »Oder denselben Fehler zu wiederholen. Ich habe noch etwas, was ich dir geben möchte. Aber nicht hier.
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