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Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Titel: Mitten in der Nacht
Autoren: Nora Roberts
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vielleicht verstehe ich einen Mann, der lieber mit einer Frau durchbrennt als seinen Eltern die Stirn zu bieten. Einen Mann, der sie dann doch in ein Haus voller Verdruss und Bedrohung zurückbringt, anstatt ihnen ein Heim zu schaffen. Einen Mann, der so außer sich gerät, dass er sich lieber ertränkt als mit dem Schmerz lebt und sein eigenes Kind mit der Liebe und dem Mitgefühl großzieht, die ihm selbst verwehrt geblieben sind. Er wollte mehr sein, als er war. Mit ihr wäre er es gewesen. Du solltest ihn nicht verachten, Declan. Du solltest Mitleid mit ihm haben.«
    »Möglich. Es fällt mir schwer. Ihre Verzweiflung ist noch immer übermächtig in mir.« Die von Abigail, aber auch eine gute Portion eigene, dachte er.
    »Glaubst du, du findest Ruhe?«
    »Ich denke nicht.«
    »Aber du solltest es versuchen. Ich muss mich umziehen.« Sie schlüpfte aus dem Bett, hob das Tablett auf und stellte es beiseite. »Versuch inzwischen zu schlafen. Ich bin gleich wieder da.«
    Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Wahrscheinlich war er allein besser dran. Er legte sich zurück und starrte zur Decke, während draußen die ersten Vögel zu singen anfingen.
    Abigail war zerbrochen worden, ging es ihm durch den Kopf. An Leib und Seele.
    Und er fühlte sich fast genauso.
    Offenbar war er eingedöst, denn als er die Augen aufschlug, stand die Sonne am Himmel. Es war noch früh, aber die Generalin und ihre Wirbelwindtruppen würden in Kürze auftauchen und das Haus mit Mopps und Besen und Gott weiß was stürmen.
    Sicher musste das Haus gereinigt und ausgeschüttelt werden. Es war schließlich seins. Er würde es nicht aufgeben. Was auch immer geschehen war, was immer es auch mit ihm gemeinsam hatte, er würde es nicht aufgeben.
    Und bei Gott, er würde auch Lena nicht aufgeben.
    Mürrisch setzte er sich auf und sah sie ihm gegenüber im Stuhl sitzen. Sie trug Jeans, ein schlichtes weißes T-Shirt. Drei kleine Blumensträuße lagen in ihrem Schoß.
    »Bist du bereit zu einer kleinen Fahrt?«, fragte sie ihn.
    »Ich denke schon.«
    »Dann zieh ein Hemd und ein Paar Schuhe an.«
    »Wohin fahren wir?«
    »Das werde ich dir unterwegs erzählen.«
    Sie fuhr, und jetzt lagen die Blumensträuße in seinem Schoß.
    »Ich möchte ihr Blumen bringen. Marie Rose.« Als ihre Nachfahrin, dachte Lena, als ihr Vater. »Ich dachte mir, du würdest sie eventuell auch gern besuchen.«
    Er schwieg.
    »Großmama hat mir erzählt«, fuhr Lena fort, »dass Marie Rose einmal im Jahr an ihrem Geburtstag auf den Friedhof ging. Sie habe ihm Blumen gebracht. Als ich heute Morgen hinüberging, um mich umzuziehen, hat sie mir gesagt, wo wir seine Gruft finden, und wir haben diese Blumen im Marschland gepflückt. Ich möchte auch Lucian Blumen bringen.«
    Er hob einen Strauß auf. »Dein Symbol des Mitleids?«
    »Wenn das alles ist, was uns bleibt.«
    »Und die anderen Blumen?«
    »Marie Rose hat sie ebenfalls ein Mal im Jahr ihrer Mutter gebracht. Irgendetwas in ihr muss es gewusst haben. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag ging sie zum Fluss und warf Blumen ins Wasser. Großmama hat mir gesagt, wo.«
    Sie fuhr zügig und dann langsamer, um in den Friedhof einzubiegen. »Ich weiß, dass du wütend auf ihn und auf mich bist. Wenn du nicht mitkommen möchtest, kannst du im Auto bleiben. Ich würde es dir nicht vorwerfen.«
    »Warum machst du das?«
    »Er ist ein Teil von mir. Durch sein Blut und mehr. Wenn ich einen Weg finde, die zu akzeptieren, die mich geboren hat, und wenn ich damit leben kann, dann kann ich auch einen Weg finden, das zu akzeptieren und damit zu leben.«
    Sie hielt den Wagen an und nahm zwei Sträuße. »Man muss ein Stück gehen. Aber ich werde nicht lang weg sein.«
    »Ich komme mit dir.«
    Er stieg aus, reichte ihr aber nicht wie üblich die Hand. Sie schlängelten sich zwischen den Grabsteinen, den Ziergittern, den Marmorengeln und den Schatten der Kreuze hindurch.
    Vor einem der aufrechten Grabsteine blieb sie stehen. Es standen viele Namen darauf, schlicht und schmucklos. Ihr Großvater ruhte hier und andere, mit denen sie Fleisch und Blut teilte. Aber heute war sie nur für eine von ihnen gekommen.
    Ihre Finger klammerten sich um den Blumenstrauß. Marie Rose, las sie. Blut meines Blutes, Herz meines Herzens.
    »Großmama hat mir erzählt, Marie Rose sei eine glückliche Frau gewesen, sie habe ein gutes Leben gehabt. Sei zufrieden damit gewesen. Das mag zwar nicht aufwiegen, was geschehen ist, aber wäre es anders gewesen... Nun, ich
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