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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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schließlich die Lust am Teetrinken auf Schiffen vergällte; also seit ich hier heimisch bin.
    Dass ich hier heimisch bin, kann der Mann mit dem Tee mir nicht ansehen. Er sieht in mir die Frau aus Europa und bietet mir, wenn er vorbeigeht mit seinem Tablett voller Teegläser und mit seinem Ruf Frischer Tee, frisch, frisch! , jedes Mal neu an: Die Dame, ein Tee gefällig? Mein Nichtreagieren ist ihm nicht, wie von allen anderen, Antwort genug.
    Das erste Mal, als ich nach Burgaz Ada fuhr, war ein Tag wie heute. Wie heute hatte der Lodos über Nacht die Winterwolkendecke aufgerissen, so dass am Morgen mein Geliebter sagte: Lass uns zu den Inseln fahren, auf den Inseln ist es an einem Tag wie heute wunderbar frühlingshaft! Also fuhren wir hin, und ich sah, hinter Mauern in Gärten blühten schon die Mandelbäume. Auch im Garten jenes weißen Holzhauses mit dem rot gestrichenen Balkon stand ein Bäumchen, zart und weiß blühend. Wir läuteten an der Tür, fragten, ob wir ins Haus einen Blick werfen dürften. Dürften wir, sagte die alte Frau in der Tür. Und stand dann und schaute uns zu, während wir, scheu und neugierig zugleich, uns umsahen und staunten, dass alles im Haus war, als ob er, der hier gelebt, geliebt und geschrieben hatte, erst gestern weggegangen wäre! Am Haken im Flur noch seine Fischer-Kleidung, der Südwester, die Stiefel und ein Kescher in der Ecke und auf der Garderobe der berühmte Strohhut. Als ob es nicht anders sein könnte, sagte mein Geliebter, und doch, dass es so ist!
    In einem der Zimmer der kleine Tisch – daran hat er gesessen und geschrieben und hinausgeschaut aufs Meer! In einem anderen das schmale Eisenbett, auf dem Nachttisch die fünf, sechs broschierten Bücher, eines nicht bis zur letzten Seite aufgeschnitten, französische Bücher, ich meine, Baudelaire war dabei; was noch? Das Entzücken meines Geliebten, dass er, der einstmals hier im Bett lag und las, dieselben Autoren liebte wie er.
    Nichts deutet darauf hin, sagten wir, dass schon vierzig Jahre vergangen sind seit seinem Tod! Ja, sagte die alte Frau, sie sorge dafür, dass das Haus nicht verkomme. Aber nur sehr selten schaue jemand herein, manchmal blieben zwar welche draußen am Gartentor stehen, als ob sie wüssten, wer hier gelebt hat; die meisten jedoch gehen vorüber, sie scheinen vom Meister nichts zu wissen.
    Ob sie selbst ihn noch gekannt hat? Sie wird noch Kind gewesen sein damals und wohl nicht weiter geachtet haben auf ihn, der sein Leben hier lebte; sie lebte ihres. Vielleicht erinnert sie sich an ihn, wie er durch den Ort ging und mit den Leuten sprach, oder dass er mit den Fischern aufs Meer hinausfuhr. Obwohl er nicht ursprünglich von der Insel war und sicher kein Leben führte wie die meisten hier und auch öfter verreiste, gehörte er dazu; er war einer von ihnen. Ein freundlicher, liebenswerter, wenn auch vielleicht etwas linkischer Kompatriot, so wird berichtet, den sie alle sehr schätzten.
    Bis zu jenem Tag, als wir das erste Mal zur Insel fuhren, hatte ich nichts von ihm gelesen. Wie kann das sein, sagte mein Geliebter, da er doch einer der Größten ist! Unterwegs dann im Ort erzählte er mir von ihm, der hier gelebt und geschrieben hatte.
    Damals, als er hier lebte und schrieb, lebten noch viele Griechen hier auf der Insel, sagte mein Geliebter, als wir bei der griechischen Kirche vorbeikamen, die verriegelt und verrammelt war, und wir uns fragten, ob sie heute noch je betreten werde. Und während wir zwischen Häusern und Gärten hinaufstiegen, dann über Wiesen und durch lockeren Pinienwald bis zur höchsten Erhebung der Insel, erzählte mein Geliebter von den Geschichten des Meisters, die von nichts erzählen als vom kleinen Leben der kleinen Leute, von Fischern und Friseuren, Töchtern und Frauen, Türken und Griechen, Verrückten und Lügnern, Aufschneidern und Träumern, Armeniern und Bulgaren, Trägern und Fuhrleuten, Zu- und Weggezogenen; und dass viele der Geschichten auf der Insel spielen, und in viele hineinspielt das Meer, das Leben mit dem Meer, jahrein, jahraus. Das ist, glaube ich, was meinen Geliebten mit ihm, dem Meister, so sehr verbindet: die unermessliche Liebe zum Meer.
    Ein anderes Mal fuhren wir nach Burgaz Ada, um oben auf der Anhöhe die Winterlinge einzupflanzen, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte; es muss also wieder im Frühling gewesen sein, ein Jahr später, wieder an einem jener vom Lodos geschenkten frühen Frühlingstage. Auf der höchsten Erhebung der
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