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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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mein Geliebter, als er noch mein Geliebter war, dein Haar, deine Haut, dein Gesicht sind so rot, wenn du dich freust, granatrot, wenn du lachst oder schreist vor Lust.
    Granatapfelbäume sind selten in Istanbul, dachte ich anfangs, und dass es auch sonst keine besonders grüne Stadt sei. Aber seit ich mich hier ein bisschen auskenne, weiß ich, wo Höfe mit Bäumen sind und wo große und kleine Parks, schattige und offene, mit Teehäusern und Picknickplätzen, und dass auch Granatapfelbäume darin stehen, mehr als vermutet.
    »Mein« Granatapfelbaum steht unterhalb von Kabataş am Bosporus, im kleinen Park bei der Molla Çelebi Moschee. Er steht neben jener Bank, wo wir zusammen saßen, mein Geliebter und ich, damals, als wir noch versuchten, außer Liebe auch Türkisch zu machen. »Unser« Granatapfelbaum müsste er eigentlich heißen, obwohl: Angeeignet habe ich ihn mir erst, als von Liebe nicht mehr die Rede war zwischen meinem Geliebten und mir.
    Soweit wir Sprache zur Verständigung brauchten, sprachen wir miteinander Französisch – als Sprache der Liebe sehr viel weniger geeignet als Türkisch mit seinen ich weiß nicht wie vielen Liebeswörtern. Türkisch lernte ich von meinem Geliebten nicht nach Lehrbuch, sondern indem wir zusammen Gedichte lasen, oft auf jener Bank neben dem kleinen Granatapfelbaum; aber oft machte mich wild, dass ich ihm nicht folgen konnte, selbst wenn er sie mir Zeile für Zeile auseinanderpflückte. Dass er nicht verstand, wie schwer meinem Kopf und meiner Zunge fällt, was meinem Ohr und meinem Herz so sehr gefällt!
    Wozu eigentlich willst du Türkisch lernen?
    Um dich besser lieben zu können!
    Narçiçeğim –
    Ende Mai fangen die Granatapfelbäume an zu blühen: zartblättrige, duftlose, feuerrote Blüten sitzen in wachsglänzendroten Kelchen, die den Sommer über anschwellen zur Frucht und im Herbst vor lauter Fülle manchmal sogar platzen. Inzwischen weiß ich auch, dass es groß- und kleinfruchtige Sorten gibt, süße und saure und mehr oder weniger rote.
    Wer einen Granatapfel aufbrechen und essen kann, ohne dass ein einziges Granat zur Erde fällt, kommt ins Paradies, sagte mein Geliebter, als er noch mein Geliebter war und wir zusammen noch Granatäpfel aßen. Aber ein Paradies gibt es nicht, es sei denn auf Erden mit dir!, sagte er dann und lachte sein herrliches Lachen, dass seine weißen Zähne nur so blitzten und seine dunklen Locken tanzten.
    Noch ist nicht Mai, und mein kleiner Granatapfelbaum neben der Bank blüht noch nicht. Aber am gegenüberliegenden Bosporus-Ufer, sehe ich, blühen schon Ginster und Judasbaum, leuchtend gelb und violett. Frühling in Istanbul – auch wenn es heute wieder kühl ist und Regenböen vom Marmara Meer herüberziehen. Ich spanne den Schirm auf und kehre um; mein Spaziergang zwecks Lüften nach langem Sitzen am Schreibtisch endet hier bei der Molla Çelebi Moschee; oder eigentlich: bei meinem kleinen Granatapfelbaum, der schon wieder voller hellgrüner Blätter ist. Seine Blüten werde ich noch sehen, aber wenn er Früchte trägt, bin ich nicht mehr hier. Wieder diese Wehmut.
    Ich laufe schneller. Und im Laufen: Ob ich über ihn, der mich Granatapfelblüte nannte, jemals schreiben würde? Wohl doch eher nicht.

UNGEHEURE VERÄNDERUNGEN SEIT DAMALS
    Heute, fast auf den Tag genau, sind seit der Eroberung von Istanbul 557 Jahre und ein halbes vergangen. Und bereits vierzehn bis sechzehn Millionen Menschen leben dort, so die Schätzung. 1949, als Ingrid zusammen mit Ali per Schiff nach Istanbul kam, sollen es knapp eine Million gewesen sein.
    Entsprechend hat der Verkehr zugenommen. Zu meiner Zeit, in den 90er Jahren, war Autofahren noch Mitschwimmen im mitreißenden Verkehrsfluss, schlimm nur, wenn du dich dagegenzustemmen versuchtest. Heute geht oft gar nichts mehr.
    Ein Lichtblick immerhin: Wenn es windstill ist, legt sich kein dicker, gelbbrauner Smog mehr auf die Stadt, da inzwischen sämtliche Straßen Istanbuls aufgerissen und die Leitungen fürs Erdgas in relativ kurzer Zeit verlegt waren; mag sein, dass an den wild bzw. illegal gebauten Stadträndern manche noch mit Kohle heizen. Und es ist zu befürchten, dass insbesondere dort auch die Baubestimmungen, verschärft nach dem großen Erdbeben 1999, nicht zwingend eingehalten werden. Aber die Wasser von Bosporus, Goldenem Horn und Marmara Meer sind wieder so sauber, dass mancherorts darin gebadet wird.
    Als ich in Istanbul lebte, war das Goldene Horn eine stinkende Kloake, und oft
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