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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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die »grande confusione« hat sie gelöst; das Haus ist verkauft, vermutlich für sehr viel Geld, an einen, der in Mittelasien Geschäfte treibt; jedenfalls sagte Anna, nun sei sie alle Schulden los und die leidige Familienhaus-Geschichte auch.
    Neulich zeigte ich ihr, was ich über ihre Haus-Geschichte aufgeschrieben habe – nein, sie war nicht wirklich empört, sagte aber doch: Du schreibst, als ob ich anti-türkisch sei, dabei waren wir, wie alle in Istanbul, voller Hochachtung für die Feuerwehrleute und mehr als dankbar für ihre Löscheinsätze; sehr viele Häuser waren damals ja noch aus Holz. Und außerdem, zum Löschen gab es nichts anderes als Bosporus-Wasser.
    Korrigiert hat mich Anna auch insofern: So wie du schreibst, klingt es, als ob wir Griechen wären. Sind wir aber nicht. Unsere Familie ist eine böhmisch-deutsche und griechisch-levantinische Melange und hatte in Istanbul mit der türkischen Gesellschaft genauso wenig zu tun wie mit der griechischen oder der jüdischen dort. Umgang pflegten wir vor allem mit der deutschsprachigen Kolonie, mit Professoren und Diplomaten und Leuten aus der Wirtschaft, auch Emigranten gehörten dazu, Wissenschaftler, Künstler und so weiter, von denen viele seit der Nazizeit dort geblieben waren. Die griechischen Familien in Istanbul aber, die sprachen alle perfekt Türkisch und waren völlig integriert in der Gesellschaft, bis eben zu ihrem Rauswurf 1964.
    Ferner: Dass ich eines Tages bereit sein würde, die Schuhe an der Wohnungstür auszuziehen, hatte ich mir damals nicht vorstellen können. Heute tue ich es selbstverständlich, zum Beispiel in Berlin, der Hunde-Stadt, zumal wenn kleine Kinder in der Wohnung mitleben.
    Und apropos Hunde: Inzwischen gibt es auch in Istanbul viele, die Hunde halten, vor allem natürlich in den wohlhabenden Stadtteilen, die meisten aus Prestigegründen. Und den entsprechenden Markt dazu gibt es ebenfalls, inklusive Hundespazierführservice. Die herumstreunenden wilden Hunde hingegen sind verschwunden.
    Auch die Hundehalterei ist ein Zeichen, neben vielen anderen, für die schier unglaubliche Prosperität, die die Stadt neuerdings erlebt, die ihr eine weitere Blüte beschert und ihren Glanz noch einmal wieder und völlig neu aufpoliert. Neu ist auch, dass auf Istanbuls Straßen Sprachen nicht nur aus der ganzen Welt zu hören sind, sondern auch wieder aus dem ganzen Land, laut und deutlich und ohne dass sich jemand daran stört.
    Seit ein paar Jahren ist sogar eine Metro in Betrieb, die die modernen Stadtteile mit den alten verbindet. Und zurzeit, höre ich, wird ein Tunnel gebohrt zwischen Europa und Asien, eine unterirdische dritte Bosporus-Querung.
    Und auch die Buchmesse findet nun nicht mehr im Zentrum, sondern außerhalb statt, weit draußen an der Peripherie – was nicht erstaunlich ist, da selbstverständlich auch dieser Markt wächst; jedoch schade, weil meine Namensschwester, nachdem sie die Mitte der Welt gelesen hatte, ausgerechnet die Istanbul-Buchmesse unbedingt zu besuchen wünschte zusammen mit mir.
    Ihr danke ich, dass diese Geschichten nun als Buch erscheinen.
    Und zusammen mit ihr werde ich – inşallah! – eines Tages nachsehen vor Ort, was heute in der schönen alten Kanonenkugelgießerei untergebracht ist. Und jene zwei weiteren Markierungen der Mitte der Welt, die es offenbar noch gibt, werden wir suchen und erkunden, von wem sie wann aufgestellt wurden. Und auch, nicht zuletzt, ob der kleine Granatapfelbaum dort am Bosporus noch steht oder ob er dem Metrobau zum Opfer fiel; was durchaus möglich wäre, sofern ich seinen Ort richtig erinnere.
    U. P.
    Ende November 2010

LITERATUR
    Sait Faik, Ein Punkt auf der Landkarte, Erzählungen, Da ğ yeli Verlag Berlin 1991
    Sait Faik, Ein Lastkahn namens Leben, Roman, dipa Verlag 1991
    Nâzım Hikmet, Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene, Liebesgedichte, Da ğ yeli Verlag Berlin 1989
    Nâzım Hikmet, Die Namen der Sehnsucht, Gedichte, Amman Verlag 2008
    Nâzım Hikmet, Die Luft ist schwer wie Blei, Gedichte, dtv 1992
    Orhan Veli Kanık, Poesie, Suhrkamp Verlag 1966
    Orhan Veli Kanık, Fremdartig / Garip, Gedichte, hg. Yüksel Pazarkaya, Dağyeli Verlag Berlin 2006
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