Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
Vom Netzwerk:
Insel, wo der Blick frei nach Südsüdwest übers Marmara Meer geht und die Halbinsel von Yalova an einem Tag wie heute fast greifbar nah erscheint, dort wo die Pinien, vom Westwind landwärts gedrückt, schief an der Kante stehen, wo über dem Steilhang die Möwen im Aufwind kreischend tanzen und unten die Wellen an die Felsen schlagen, dort zwischen Zistrosen und Salbeigestrüpp, wo wir, mein Geliebter und ich, im trocken raschelnden, von der Frühjahrsonne erwärmten Laub vom Vorjahr uns liebten, etwas hektisch zwar aus nicht ganz wegzuliebender Angst vor möglichen Vorbeikommenden, die uns sähen, halbnackt und winterweiß im gleißenden Frühlingslicht, dort oben, an einem Tag wie heute, kratzten wir mit Taschenmessern unter Büschen die Erde auf, Pflanzlöcher für die Winterlinge – in der Hoffnung, sie breiteten sich aus mit den Jahren, ein goldgelber Blütenteppich wüchse den Hügel hinab, Hommage an den großen Meister.
    Abends dann, nach getaner Pflanzarbeit, saßen wir unten am Hafen, tranken Tee und schauten den Fischern zu, die in ihren Booten hantierten, und den alten Männern, die am Quai auf und ab gingen, plaudernd, auf dem Rücken das tespih durch die Finger spielend; während der Abendhimmel rot und röter wurde, dann violett und schließlich ganz erlosch und auf der Landungsbrücke die Neonleuchten ihr fahlweißes Licht auszubreiten begannen und die Kühle vom Wasser heraufstieg. Wir zogen die Reißverschlüsse zu, stellten die Kragen hoch und rückten unters Vordach und warteten aufs letzte Schiff zurück nach Istanbul.
    Wie oft ich auf Burgaz Ada war, weiß ich nicht genau. Oft im Frühling, manchmal im Sommer, nie im Winter. Wie im Winter der Poyraz von Nordosten in den Ort hereinbläst und die Türen krachend zutritt, wie die Fenster in den Cafés und Friseursalons beschlagen, trübweiß wie Raki mit Wasser, weiß ich nur von ihm, der hier lebte und schrieb.
    Kınalı Ada, die erste der Inseln, ist schon so nah, dass vor den Sommerhäusern die Menschen zu erkennen sind und in allen Details die Masten der Militärstation oben auf dem kahlen, rötlichen Fels, die bei klarem Wetter auch von Istanbul aus zu sehen sind.
    Die nächste Insel ist Burgaz Ada, die dritte Heybeli Ada, dann kommt Büyük Ada. Auch Büyük Ada ist sehr schön. Die liebste ist mir aber doch Burgaz.
    Auf Burgaz Ada soll es im vorigen Sommer gebrannt haben. Große Teile des Pinienwaldes, hörte ich, seien zerstört. Ganz oben bin ich seit damals nie mehr gewesen. Und was aus den Winterlingen wurde, weiß ich nicht. Heute werde ich hinaufgehen und nachsehen.
    Der Mann mit dem Tee kommt wieder vorbei, wir wechseln einen Blick – nun hat er mich doch verstanden und geht weiter mit seinem: Frischer Tee, frisch, frisch!

MEINE SOLDATEN
    Es war einmal ein Padişah mit Namen Selim, der ließ in seiner Stadt Istanbul eine Kanonenkugelgießerei bauen, und als die Kanonenkugelgießerei fertig gebaut war, hieß er seine Soldaten sie bewachen, Tag und Nacht, sommers und winters, immerzu.
    Seither stehen sie nun, die wackeren Wachsoldaten, seit hundertneunzig Jahren genau, und halten Wache bei Tophane; an jedem Tor einer, einer auf der Terrasse und an der Gittertür in der Mauer auch einer; sie stehen nicht stramm, aber sie halten Wacht. Immer sind sie da, fast immer mit Knarre im Arm; manchmal lösen sie sich ab, sie müssen ja auch mal essen und schlafen.
    Die ganzen langen Stunden, während sie Wache halten, was tun sie? Sie fegen das Laub, sah ich im Herbst, Laub, das die alte Platane auf sie und ihre Kanonenkugelgießerei herabfallen ließ, täglich neues; bis nach Neujahr hatten sie reichlich zu tun damit.
    Im Winter treten sie von einem Fuß auf den anderen und strecken ihre Nasen nur selten aus den Wachhäuschen heraus; im Frühjahr lassen sie sich die Sonne auf ihren geschorenen Pelz scheinen; und im Sommer dösen sie im Schatten der großen alten Platane vor sich hin; und im Herbst, wie gesagt, fegen sie Laub, bis in den Winter hinein.
    Von meinem Fenster aus sehe ich sie; ihre kahlen Köpfe und ihre braunen Uniformschultern. Sie sehen mich nicht. Vielleicht sieht der eine oder andere mein erleuchtetes Fenster in der Nacht, eines unter vielen. Mich kennen sie nicht, aber ich kenne sie; nicht einzeln, ich weiß nur, sie sind da, immerzu, meine wackeren Wachsoldaten.
    Sie schauen, während sie Wache halten, auf die Straßen voller Menschen und Autos, übers Goldene Horn nach Stambul mit all seinen Kuppeln und Minaretten, auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher