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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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»Die Blockade war immer da«
    Vorwort von Lena Gorelik

    Sie war Legende, erfüllte uns mit Stolz und trieb uns zugleich Schauder über den Rücken. Die Blockade war immer da, nicht nur in unserer Familienerzählung und der aller anderen Leningrader; bei allen Festen war sie Thema. Auch wenn ich sie natürlich nicht miterlebt habe, auch wenn ich sie nur aus Erzählungen und von Schwarz-Weiß-Fotografien kannte. Aber wie viele Erzählungen waren das, und wie oft hatte ich mir die Bilder in meinen Geschichtsbüchern und in den Petersburger Museen angeschaut, sie gerne angeschaut, mich nicht dazu zwingen müssen. Ich wurde ihrer nicht überdrüssig, die Erzählung von der Blockade gehörte zu meiner Kindheit, war immer da.
    Sie machte mir ein schlechtes Gewissen, und zwar so: Ich bin fünf (oder sechs, sieben, acht und älter) und verweigere das Essen, wie Kinder es eben tun. Weil es mir nicht schmeckt, weil ich satt bin, aus einem beliebigen Grund. Ich lasse mein Essen, die Kartoffeln, das Fleisch, auch das Brot auf dem Teller liegen. Und meine Großmutter, unweigerlich, selbst als ich schon nicht mehr zu Hause wohnte und nur noch zu Besuch kam:
    »Was ist mit deinem Essen? Was ist mit dem Brot? Sollen wir das wegschmeißen?«
    »Ja!« / »Ist für den Hund.« / »Ich esse es später.«
    Und meine Großmutter, unweigerlich: »Wie bitte? Wir können kein Brot wegschmeißen. Weißt du, wie viel Brot wir während der Blockade bekamen?«
    Aber natürlich weiß ich das. 125 Gramm.
    »125 Gramm. Und weißt du, wie wenig das ist? Soll ich es dir zeigen?«
    Aber das muss sie nicht. Anhand jeder Brotscheibe der Welt kann ich zeigen, wie viel davon 125 Gramm sind. So, als hätte ich die Blockade selbst damit überlebt.
    Kälte, Angst, Qualen, Tod, vor allem aber Hunger – Synonyme für die Blockade. Mein Vater war ein Kind während der Blockade, ein sogenanntes Blockadekind, und seine erste Erfahrung war: Hunger. Bis heute stapeln sich in den Regalen im Keller meiner Eltern Konservendosen, Nudeln, Reis, Knäckebrot bis an die Decke. Nie wieder will mein Vater Hunger leiden, wir alle nicht, und besser, man hat vorgesorgt. (Aus demselben Grund isst er auch Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist: Während der Blockade hätte man sein Leben dafür verkauft.)
    Die Blockade ist Legende: Die sie überlebt haben, sind Helden. Fast 900 Tage Hunger, eisige Winter und sengende Sommer, deutsche Angriffe und Bombardierungen, 900 000 Tote. Es sind Helden, die das erduldet haben, die ihre Stadt beschützt, dem Tod getrotzt hatten: Blokadniki. Sie wurden an Gedenktagen geehrt, bekamen am 9. Mai 1 oder zu anderen Feiertagten hin und wieder besondere Lebensmittel zugeteilt, die auf dem freien Markt in der Sowjetunion nicht zu bekommen waren. »Heldenstadt Leningrad«, wie es auf dem Obelisk mitten im Zentrum von Sankt Petersburg auch heute noch heißt, zwanzig Jahre nach der Umbenennung der Stadt.
    Helden gab es in jeder Familie. In meiner Familie war es der Bruder meiner Großmutter, der hochbegabte Bruder Dawid, der seinen Verteidigungsposten verlassen durfte, damit er im eisigen Winter durch die ganze Stadt marschieren konnte, um in Erfahrung zu bringen, wie seine ein paar Tage zuvor geborene Tochter hieß. Er hat es nie erfahren, er ist auf dem Weg erfroren. Der Name seiner Tochter war Ljubow, zu Deutsch: Liebe. (Romanstoff sozusagen.) Die Schwester meiner Großmutter hat einmal ihre Lebensmittelkarte verloren. Keine Lebensmittelkarte bedeutete: kein Brot. Kein Brot: kein Leben. Sie behielt es für sich, damit niemand aus der Familie anbieten müsste, mit ihr zu teilen. »Dumm«, nannte meine Großmutter das, sie hatte es zum Glück rechtzeitig gemerkt und konnte ihre Schwester vor dem Hungertod bewahren, »dumm«, sagte sie und meinte eine Heldin. Wir Kinder lernten nicht nur durch diese Geschichten aus den Familien, was Helden waren, sondern auch lehrplangemäß in der Schule, im Geschichtsunterricht, im Lite­ra­tur­unter­richt. Wir waren Leningrader: Enkel­kinder von Helden.
    Das erfüllte uns mit Stolz und Schauder: regelmäßige Besuche auf dem Gedenkhof Piskarjowskoje, einer Massenbegräbnisstätte von Blockadeopfern, stille Momente vor dem dort brennenden ewigen Feuer. Ich war mit meinem Vater dort und auch mit der Schule. Unter den unbekannten Opfern befand sich vielleicht mein Großvater, der Vater meines Vaters, der die Blockade nicht überlebt hatte, auch er ein Held. Regelmäßig besuchten wir das
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