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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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Hethitern, von den Griechen über die Römer nach Byzanz, von den Seldschuken bis in die osmanische Glanzzeit berichten, ohne eine einzige Erwähnung der armenischen Kultur und Kunstdenkmäler?
    Alles, was armenisch ist, fehlt darin – als ob es Armenier nie gegeben hätte auf anatolischem Boden. Und entsprechend ist die beigefügte Türkeikarte, in der die Fundorte der prächtigen Ausstellungsstücke eingetragen sind, komplett leer im Osten; bis auf die paar wenigen Punkte, die seldschukische Bauwerke markieren.
    Die Blindheit der von mir so sehr verehrten alten Pioniere hat mich erschüttert – mal abgesehen vom wahrscheinlich aus Nato-Gründen absichtsvoll zugedrückten Auge des Council of Europe –, aber auch und vor allem meine eigene Blindheit.
    Ja, ich hatte verstehen gelernt, dass nach dem traumatischen Untergang des Osmanischen Reiches mit all den unvorstellbaren Verlusten Besinnung auf die eigenen Wurzeln im anatolischen Boden zwingend notwendig war. Wenn eine neue Türkei entstehen sollte, musste sie sich selbst neu erfinden und definieren. Nicht mehr ein Vielvölkerstaat sollte sie sein, sondern ein Staat, in dem alle Menschen unter einem einigenden Dach leben könnten.
    Die Idee gefiel mir. Sie überzeugte mich.
    Dass der Preis ungeheuerlich war, sah ich – noch – nicht.
    Auch was Mustafa, der Landwirt und Lehrer, über die jungen Leute in den Dorf-Instituten sagte, dass viele gar kein richtiges Türkisch konnten – erst später verstand ich: Nicht ihre dörflich-rudimentäre Sprachkompetenz meinte er, sondern dass in diesem Land viele mit anderen, verschiedenen Muttersprachen aufgewachsen waren, Kurdisch, Arabisch, Tscherkessisch, Griechisch, Armenisch, Ladino, auch Aramäisch, vielleicht sogar Georgisch und wer weiß, mit welchen noch; Türkisch aber sollte in der neuen Türkei die alle verbindende Sprache sein.
    Bereits im ersten Herbst in Istanbul wies mich Sezer auf die eben erschienene Sammlung Türkische Erzähler des 20. Jahrhunderts hin und besonders auch auf Das Gesicht und sein Henker , jene fantastische Geschichte aus dem Kara Kitap von Orhan Pamuk. Sezer sagte: Er ist einer der Besten, er kann wirklich erzählen! Und eines Tages, du wirst sehen, bekommt er den Nobelpreis! Ja, sie hatte es vorausgesehen – schade nur, dass sie heute, wie ich hörte, ganz anders über ihn spricht.
    Was mir bleibt: Allah zu bitten, dass er die neuen Eliten, die nun an der Macht sind, bewahre vor der Blindheit der alten Eliten. (Und auch mich bewahre zu glauben, in Istanbul und in der Türkei wäre möglich, was nirgendwo sonst möglich ist.)
    Zur alten Elite ist zu ergänzen: Akçaabat heißt der Ort westlich von Trabzon, aus dem die Familie Eyüboğlu stammt, nicht Maçka, wie ich mich wohl verhört hatte damals beim Essen mit Magdalena.
    Und: Viele dieser alten Pioniere sind inzwischen gestorben.
    Als Magdalena starb, 2007, rief Ingrid mich in Deutschland an: Nun sind es immer weniger, die noch da sind von uns, aber wir hatten eine gute Zeit, und wir hatten das Glück, viel Gutes tun zu können, vieles war möglich damals.
    Und heute?
    Heute freue ich mich an den vielen guten Erinnerungen! Das kennst du doch – le mieux c’est l’ennemi du bien .
    Auch Ingrids Ali ist vor ein paar Jahren gestorben – Ali, der Miniaturen malte, die an Klee erinnern, und auf Schalen und Vasen und Krüge changierende Glasuren zauberte, während seine Ingrid jahrein, jahraus im Büro einer deutschen Firma das tägliche Brot für sie beide erarbeitete; Ali, der auch im Alter trotz angeschlagener Gesundheit sich seinen Charme bewahrt hatte und seinen Witz, etwas linkisch zwar, aber wohldosiert und vielschichtig wie ehedem.
    Bei meinem letzten Besuch in Istanbul erfuhr ich: Auch Robert ist gestorben. Und auch Mualla lebt nicht mehr. Wie schade, dass ich sie beide doch nicht mehr besucht hatte!
    Und jener weißhaarige Alte wird auch längst tot sein, der mich damals, so wie er in den glanzvollen Morgen schaute und sich die Haare aus dem Gesicht strich, lidschlagkurz an jenen anderen weißhaarigen Alten erinnert hatte, meinen Vater – dessen Tod nun schon fast zwanzig Jahre zurückliegt.
    Freund Egon in Zürich sagte zum Glockenläuten in Istanbul: Glocken habe er in den 60er Jahren, als er dort lebte, nie läuten gehört. Gut möglich, dass das Läuten der Glocken in der Zeit des sich zuspitzenden Zypernkonflikts verboten wurde.
    Apropos Griechen ist zu ergänzen: Anna hat geschafft, was ich nicht für möglich hielt –
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