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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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den Bosporus und das Marmara Meer voller Schiffe, kommende und gehende, Frachter und Tanker und Luxusliner, Lotsen- und Schlepper- und Fischerboote und die her und hin kreuzenden Dampfer; und sicher träumen sie auch, während sie schauen und wachen.
    Große und kleine, dunkel- und helläugige Wachsoldaten, wo überall mögt ihr her sein, aus welchen Familien, aus welchen Dörfern, Städten, Provinzen Anatoliens, welche Geschichten habt ihr mitgebracht, welche stehen euch noch bevor?
    Eins haben sie alle gemeinsam: Kommt ein Rock die steile Straße herauf oder geht ein Rock die steile Straße hinab, lassen sie ihr Schauen und Träumen und den Besen beim Laubfegen fallen und laufen zum Gitter in der Mauer und blicken durch die Stäbe, stumm, mit großen, hungrigen Bärenaugen. Einmal spätabends, als ich an Tophane vorbei nach Hause ging, wagte einer durch die Gitterstäbe hindurch ein scheues iyi akşamlar.
    Selim, jener Padişah, ist natürlich längst gestorben, und auch Kanonenkugeln werden in Tophane schon lange keine mehr gegossen; und plötzlich eines Tages in diesem Sommer waren auch die Soldaten verschwunden.
    Inzwischen ist wieder Herbst. Die alte Platane steht noch immer; und wieder lässt sie ihre Blätter tanzen in Wind und Regen und herabfallen aufs vielkupplige Dach der Kanonenkugelgießerei. Und auf die vereinsamte Terrasse, die bereits mit Gras überwachsen ist, auf die sperrangelweit offenen Wachthäuschen und die umgekippten Barrikaden aus Blechkanistern, auf den herausgestürzten Sand, rot schon vom Rost. Täglich fallen neue Blätter herab. Immer mehr. Niemand fegt sie mehr zusammen. Meine Wachsoldaten bleiben verschwunden.
    Nur ich bin noch da.

MEIN 10. NOVEMBER
    Wie fast jeden Tag stehe ich früh auf, gehe ans Fenster und schaue aufs Wasser, den Himmel und wie das Wetter wohl wird heute und ob die Prinzeninseln zu sehen sind – was sie heute nicht sind. Auch sind die kleinen Fischerboote, seh ich, heute nicht vor Sarayburnu, sondern weiter links, bosporusaufwärts; was an der Strömung liegen mag und wie die Fische darin sich tummeln.
    Die Dächer und Türme und Kamine vom Sultanspalast und die Kuppeln und Minarette von Aya Sofya und Sultan Ahmet stehen grau in grau heute, und die Hügel hinter Üsküdar verschwimmen in trüben Nieselregenschleiern. Von den Straßen herauf wie immer das Verkehrsbrausen, und manchmal das Tuten von Schiffen, die vom Marmara Meer hereindrehen ins Goldene Horn.
    Ich setze Teewasser auf, wie jeden Morgen, und stelle, da es kühler geworden ist, die Heizung hoch und setze mich an den Schreibtisch mit dem ersten Glas Tee, dem köstlichsten am Tag – alles wie immer.
    Und plötzlich das jaulende Sirenengeheul, über der ganzen Stadt.
    Was ist passiert?, sprang ich an meinem ersten 10. November ans Fenster, ob eine Rauchfahne oder sonst etwas zu sehen sei. Nichts war zu sehen; nur Möwen in Scharen, die, aufgescheucht vom durchdringenden Sirenengeheul, kreischend hinauszogen und sich weit draußen aufs Wasser niederließen.
    Warum die Sirenen? Und warum dieser Dauerton? Ich lief ins andere Zimmer, schaute von dort auf die Straße – sämtliche Autos standen still, regungslos auch die Menschen. Nur die Blätter tanzend von der großen Platane, herab auf Tophane, die Straße, die Autos, die Menschen.
    Als ob ein Zauber sich auf die Stadt gelegt habe!
    Oder ein Unglück, vielleicht eine Katastrophe über die Stadt hereingebrochen, Ausnahmezustand, die Regierung gestürzt?
    Am Radio: feierlich ernste Musik auf allen Sendern und würdige Stimmen, die von Republik sprachen und Demokratie und Türkei und Atatürk.
    Ob sie die neuen Machthaber sind, fragte ich mich, die ihren Staatsstreich, ihren Putsch, ihren Machtanspruch zu legitimieren trachten, indem sie sich auf Atatürk berufen.
    Hier weiß das jedes Kind! Dumm nur, dass ich dich nicht vorgewarnt habe! Von klein auf haben wir’s in Kopf und Herz, schon mit der Muttermilch saugen wir’s ein, sagte mittags meine Türkischlehrerin, als wir uns trafen. Jedes Jahr an diesem Tag um fünf nach neun bleiben wir schweigend stehen, alle tun wir das, in der ganzen Türkei, Jahr für Jahr. Drei Minuten lang stehen wir still und gedenken Atatürks an diesem seinem Todestag.
    Längst schon braust wieder der Verkehr, und das Gerenne und Geschleppe geht straßauf und straßab weiter seinen Gang.

MEIN GRANATAPFELBAUM
    Immer wieder diese Wehmut angesichts von Granatapfelbäumen, insbesondere wenn sie blühen! Narçiçeğim , sagte
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