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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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versuchten, zu verstehen, zu errechnen und weiterzuführen, allen voran der geniale Meisterarchitekt Mimâr Sinan. Und verständlich, dass der Eroberer, nachdem diese Stadt seine geworden war, als ersten Ort die Hagia Sophia betrat und sie zur Hauptmoschee seines Reiches machte.
    Ebenso verständlich, dass Mustafa Kemal nach der Gründung der Republik den Ort zum Museum erklärte, um ihn aller Transzendenz zu entkleiden und gleichzeitig ihm jeden Anspruch auf irdische Machtentfaltung abzusprechen.
    Leichtes Tippen auf meiner Schulter – eine junge Frau, lächelnd, weist zur Säule hin: Sehen Sie, niemand mehr ist dort!
    Ich danke für den Hinweis und schaue ihr nach, wie sie zusammen mit anderen jungen Frauen den von Lichtfahnen erfüllten Raum durchquert; und wende mich der Säule zu, schaue aufs schwarze Loch und in mich hinein – und plötzlich, durch mich hindurch, ein ungeheurer Sog, der Raum hinter mir, er dehnt sich, bläht sich auf –
    Ja, das ist sie, die Zeit im Raum! Reine, pure Potenz, frei von allem Gewesenen, frei für alles Kommende.
    Mein Wunsch jetzt –

EIN WUNDER
    Über Nacht ist Schnee gefallen. Die Straßen, die Dächer, die Kuppeln – weiß!
    Verzaubertes Istanbul.
    Die Stadt nur mehr als Grafik, filigranartig unplastisch, fast unwirklich.
    Vor allem die Kuppeln: ihr rundes, prangendes Weiß vor den diversen Grautönen von Stadt, Wasser und Himmel.
    Gestern Abend schon roch es nach Schnee.
    Ja, ich weiß, Schnee kann es hier geben. Gibt es sogar ziemlich oft, höre ich, jeden Winter einige Male. Nicht ungewöhnlich also, dass es geschneit hat über Nacht.
    Nicht einmal knöchelhoch liegt er, drei Finger dick, handbreit höchstens, aber es reicht, sehe ich vom Fenster aus, dass der Verkehr auf der breiten Uferstraße nur noch stockend vorankommt; und die steile Gasse hinter Tophane ist unpassierbar geworden, blockiert von kreuz und quer steckengebliebenen Autos, die mit hochtourig aufheulenden Motoren und durchdrehenden Rädern sich in den Schneematsch hineingefressen haben und seitlich weggerutscht sind.
    Lange wird es nicht dauern. Von den Ästen der großen, alten Platane fällt schon Schnee ab in Klumpen, und von den Kuppeln rutschen an den steilen Stellen ganze Placken, so dass dunkles Zinkblech absticht vom Schneeweiß. Der Zauber wird bald zerrinnen. Bald wird Istanbul wieder sein wie vor dem Schnee.
    Aber noch liegt er. Noch hält das Wunder an.

EIN WORT VON GESTERN
    Heute wäre ein Tag, um ins Hamam zu gehen!
    Draußen die Wolken hängen so tief und schwer und nass, dass das asiatische Ufer nur ein trüber Schatten ist, Aksaray ohne Kuppeln und Minarette, und Galata mitsamt Turm ganz verschwunden.
    In wohlig warmen Dampfwolken zu liegen müsste herrlich sein heute!
    Wenn der Wind durch die Fensterritzen hereindrängt und die Heizung nichts vermag gegen ihn, gehe ich, mit leuchtend rotem Schal um Kopf, Hals und Schultern, gegen die Kälte an. Die feuchte, dunkle Kälte von Poyraz, dem Nordostwind, der, gesättigt von den Nebelschwaden des Schwarzen Meeres, in die Stadt hereinbläst und auf Bosporus und Marmara Meer schaumgekrönte Wellen vor sich herjagt. Oder die klirrende Kälte von Yıldız, dem Nordwind, die alles Leben verstummen und erstarren lässt.
    Um warm zu werden in diesen Wintertagen, gehe ich immer sehr rasch, meistens dem Bosporus entlang, oft bis zur Molla Çelebi Moschee, manchmal weiter bis nach Ortaköy oder sogar bis Arnavutköy.
    Heute bläst kein Wind, nicht ein Hauch von einem Wind. Die Wolken hocken dicht und schwer auf der Stadt und drücken Rauch und Abgase zurück in die Straßen, und du meinst, du kriegst keinen Schluck Luft in die Lunge. Um aber warm zu werden, musst du schnell gehen, und um schnell gehen zu können, musst du tief Luft holen.
    Ja, heute ist wirklich ein Tag fürs Hamam!
    Die verlockende Vorstellung, von Fuß bis Kopf massiert, in Tücher gewickelt, Tee trinkend, plaudernd, träumend, dösend den trüben Wintertag zu vertun –
    Wen könnte ich anrufen, ob sie mit mir ginge?
    Damals, als ich bei S. im Kreis einiger ihrer Freundinnen sagte, dass ich noch nie im Hamam war, aber hinzugehen große Lust hätte, mich jedoch nicht traue allein, weil ich nicht wisse, was ich von all den Schauergeschichten glauben solle – ich hätte gehört und sogar gelesen, im Hamam würde einem nicht nur die Haut vom Leib geschrubbt, sondern das Fleisch so durchgewalkt, dass es fast von den Knochen falle –: schallendes Gelächter.
    Ja, sagte eine, die
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