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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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ist der Park menschenleer. Und in den Bäumen fast schlagartig ein gewaltiges Rauschen – der Regen!
    Über den Platz rennen Menschen. Auch ich renne; irgendwo drüben will ich mich unterstellen. Schon spritzen Autos Fontänen, und die steile Gasse hinab schießen bereits Sturzbäche. Es schüttet wirklich wie aus Kübeln! Istanbul wäscht sich! Es ist zum Lachen. Auch ich bin bereits bis auf die Haut nass.
    Drüben stelle ich mich unter ein Vordach zwischen die vielen, die ebenfalls unterstehen und warten, dass der Regen aufhört. Das Prasseln des Regens auf dem Blech, und Worte, Sätze, Sprüche, auch politisch angehauchte; verhalten wird gelacht. Bald wird der Himmel wieder aufreißen; bekanntlich dauern derartige Gewittergüsse nie lange, die zufällige Nähe also nur kurz; dann wird alles wieder sein, als ob nie etwas gewesen wäre.
    Kaum dass der Regen etwas nachlässt, lösen sich aus den Dichtgedrängten Erste heraus und springen, die Schultern einziehend, ihre Aktentaschen über dem Kopf, weiter. Immer mehr drängen hinaus. Auch ich will weiter und laufe los; stelle mich aber, da es mir doch noch zu sehr regnet, bei der nächsten Passage wieder unter; und sehe: Drüben auf der anderen Straßenseite steht die Engländerin. Sie ist also auch noch in Istanbul! Lange habe ich sie nicht mehr gesehen.
    Letztes Jahr im Sommer, vor der Galatasaray Post, sprach sie mich an: Darf ich Sie um einen Gefallen bitten? Ich bin nämlich in eine missliche Lage geraten, mein Portemonnaie ist weg; könnten Sie mir vielleicht aushelfen mit ein bisschen Geld? Ihr klassisches Englisch fiel mir auf damals. Sie selbst fand ich nicht besonders, aschblondes, offenes Haar, unscheinbares Gesicht, schlank. Aber ich sah, sie sprach alle an, die nach Geld oder Mitleid aussahen. Touristin in Schwierigkeiten, dachte ich, und dass ich an ihrer Stelle wahrscheinlich ähnlich ausgewählt hätte, wen anzusprechen möglich sei. Jedenfalls überlegte ich mir nichts weiter und gab, was ich meinte, ihr schuldig zu sein, ihr, einer Frau, und auch sie nicht ursprünglich von hier.
    Wenige Tage später sah ich sie wieder, und wieder sprach sie auch mich an, wieder mit demselben gepflegten Spruch. Eine Masche also! Ich sagte nur: You are still here? Und fragte mich, als ich weiterging: Warum eigentlich gab ich ihr kein zweites Mal? Zu ihr zurück aber ging ich nicht.
    Im Winter dann sah ich sie noch einmal. Heruntergekommen sah sie aus und erschreckend dünn, und sie ging, gezwängt in irgendeinen Mantel, der offensichtlich schon anderen gehört hatte, mit schnellen Schritten durch die Istiklâl Caddesi. Aber sie schien ein Ziel zu haben, ich dachte, irgendwo gehört sie wohl hin; eine der vielen eben, die in Istanbul hängen geblieben sind. Wie sie sich durchschlug und wo sie nächtigte, wollte ich mir nicht vorstellen.
    Nun also steht sie dort drüben unter der Markise. Kein Zweifel, sie ist es. Ich sehe sie genau. Sie steht ganz vorn und schaut dem rechts und links von der Markise ablaufenden Regenwasser zu. Aber verändert sieht sie aus. So wie sie steht und schaut, versunken ins Betrachten des rinnenden Wassers, als ob sie alleine dort unter der Markise stünde, als ob die um sie herum nicht vorhanden wären. Abwesend wirkt sie, ihr Blick beinah irr. Andererseits, so wie sie dem Wasser zuschaut, abwesend ist sie nicht, sondern ganz aufs rinnende Wasser konzentriert.
    Jetzt tritt sie einen Schritt vor und stellt sich direkt unters Wasser! Augen zu und Kopf in den Nacken gelegt, lässt sie es sich über Gesicht und Haar und Brust laufen. Als ob sie unter einer Dusche stünde, allein; sie scheint es zu genießen. Alle um sie herum schauen ihr zu, niemand sagt etwas.
    Plötzlich, wie erwacht aus einem Traum, öffnet sie die Augen, rafft ihren Rock energisch hoch und zieht ihre Unterhose, die kein Slip ist, am Gummiband nach außen, so dass der Wasserstrahl direkt hineinfällt.
    Elle se lave la chatte! , sagt neben mir einer. Und von mehreren Seiten ist unterdrücktes Lachen zu hören; ich sehe peinlich berührte Blicke um mich herum, andere schauen weg. Weiter geschieht nichts. Niemand greift ein. Auch ich tue nichts; sondern gehe wie alle anderen, als der Regen fast so schlagartig aufhört, wie er eingesetzt hat, meiner Wege.
    Und wechsle zu Hause die pitschnassen Kleider, setze Wasser auf für Tee und sehe, das Gewitter ist weitergezogen. Nur über dem anatolischen Ufer hängt noch eine drohend violettbraune Wolkenwand, und fernes Donnergrummeln ist
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