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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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frisch gepflügter Erde, von Schneeluft und Rauch, vom Geruch eines Geranienblattes, der an den Fingerspitzen haften bleibt, und vom Rot einer letzten Nelke im Topf vor dem vergitterten Fenster, von Schreien fortziehender Vögel und vom Ruf des Fleisches, und von Sehnsucht nach der geliebten Frau im geliebten Istanbul – das er, kaum betrat er es wieder, verlassen musste; und es nie mehr wiedersah, die Stadt nicht und nicht das Land; nur ein einziges Mal noch von hoch oben aus dem Flugzeug.
    Es ist wirklich zum Verrücktwerden, dass es so ist!
    Und doch ist es schön, hier zu sitzen, eingehüllt in den Duft von Rosen und Jasmin!
    Rote Nelken würden für ihn besser passen. Auch Nelken duften betörend. Wenn ich bloß wüsste, wo Nelken so üppig gedeihen und blühen wie hier die Rosen!
    Schön ist es hier auch im Winter: drinnen im Malta Köşk in wohliger Wärme vom Sommer zu träumen, während draußen auf der Terrasse Schnee liegt und drüben das Ufer in Grau.
    Mag sein, dass auch er den Yıldız Park liebte, winters mit Schneeluft, sommers mit Wolken über Asien; vielleicht dass er unter Bäumen im Gras lag, vielleicht mit einer Geliebten im Arm, eingehüllt in Rosen- und Jasminduft; oder, auch möglich, dass er hier oben saß und schrieb – so wie er schrieb, überall und trotz allem, selbst im Gefängnis; obwohl auch möglich ist, dass er, der so glühend an kommende Zeiten glaubte, von so viel Vergangenheit beladene Orte mied.
    Ich, frei von jeder Zeit, sitze in der geschmeidigen, seidigen Sommerluft und lasse den Stunden ihren Lauf. Ach, schöner könnte es nicht sein!
    Und wird es, wer weiß, nicht mehr werden.
    Ja, auch ich habe die vierzig längst überschritten. Und doch, auch ich weiß, das schönste Meer ist das noch nicht befahrene, die schönsten Tage sind die noch nicht gelebten .
    Und also sitze ich, bis die sinkende Sonne rotgolden auf dem Bosporus tanzt, bis der Abendhauch durch die Bäume streicht und die feinblättrigen Akazien erzittern lässt und meine nackten Schultern erschauern; bis der Kellner die Rechnung dezent auf den Tisch legt für das Genossene des heutigen Tages – der, trotz allem, was heute ganz sicher auch geschehen ist, schön war.

COLA UND SIMIT
    Kitap fuarı – wie jedes Jahr bei der Buchmesse diese Menschenmassen, ein Geschiebe und Gedränge in den Hallen, zwischen den Ständen, in den Gängen, auf den Treppen, und das Stimmengewirr obendrüber –
    Ich muss raus – Luft, Licht, jetzt sofort!
    Draußen, auf der Terrasse vor dem Messe-Gebäude, atme ich tief durch, kaufe mir eine Cola und ein Simit, schaue, wo Platz ist auf den Bänken, wo ich mich dazusetzen könnte; die Jugendlichen sind mir zu lärmig, und die Frauen, wie sie zusammensitzen, zu dicht, aber dort drüben seh ich eine Bank, auf der nur einer sitzt. Den freien Platz mit den Augen festhaltend, gehe ich, vorbei an den Menschenschlangen vor den Kassen, hinüber zur Bank und freue mich: Er, der hier sitzt, wo ich dachte mich dazuzusetzen, ist ein Lesender! Einer also, mit dem sich, falls unumgänglich, ein paar Worte wechseln ließen ohne Missverständnis von vorneherein. Und tatsächlich, als ich mich hinsetze, die Dose klick-öffne und den krossen Sesamkringel durchbreche, schaut er nicht auf; er unterbricht seine Lektüre nicht. Aber ich sehe jetzt, was er liest: Ulysses .
    Ein echter Leser also!
    Ich lese nicht, sondern beiße vom Simit ab und trinke Cola dazu und schaue über die Dächer von Tepebaşı aufs schimmernde Goldene Horn; und hinüber nach Stambul, von zartem Dunst verschleiert, die Fatih Mehmet Moschee als Silhouette – ein Novembertag, vom Sommer nachgereicht, zauberhaft und wehmütig zugleich.
    Der Lesende neben mir, versunken in sein Buch – wie mag für ihn Ulysses wohl sein?
    Seine Hände sind fein, sehe ich, seine Schuhe blank, weiße Socken trägt er, Jeans und Jackett, keine Krawatte; im dichten, schwarzen, über Ulysses gebeugten Schopf schimmern einzelne weiße Haare. So wie er liest und liest, ich hatte mich nicht getäuscht: Ihn interessiert nicht, wer neben ihm sitzt. Wirklich ein Leser!
    Die herumspringenden und schreienden Schulkinder, ein schnatternder, flatternder Haufen – klassenweise werden sie durch die Buchmesse geschleust, nun haben auch sie Pause. Und Studenten in Gruppen, die herumstehen und lachen und reden und schäkern und sich necken, um einander und um sich selbst sich drehend – wie Ballett, zum Zuschauen schön!
    Und irgendwann dann streifen sich unsere
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