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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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Blicke doch, des Ulysses -Lesers und meine, und wir kommen doch ins Gespräch.
    Ja, er lese sehr gern und sehr viel, europäische Literatur vor allem; und dass nun endlich auch Ulysses auf Türkisch erschienen sei, darauf habe er lange gewartet, denn leider sei sein Englisch fürs Original nicht gut genug.
    Mein Englisch ist auch nicht gut genug dafür, sage ich, und finde, der Ausdruck im Gesicht des Lesers ist angenehm. Ich frage, ob er Irland kenne.
    Nun lerne er es kennen, sagt er und lächelt ein Lächeln, in dem Melancholie mitschwingt und Resignation. Aber England kenne er, ein bisschen jedenfalls. Vor Jahren einmal sei er dort gewesen, in London, für ein dreimonatiges Praktikum während seines Medizinstudiums. Sonst kenne er leider kein Land in Europa; keines jedenfalls, das er mit Füßen betreten habe, nur eben lesenderweise.
    Sie sind wohl Arzt, soweit ich verstanden habe, was für ein schöner Beruf!
    Ja, ein schöner Beruf, sagt er und seufzt, aber den Menschen wirklich zu helfen ist nicht immer leicht.
    Ob er sich spezialisiert habe, wo er arbeite, in einer Praxis oder in einem Krankenhaus.
    Er schaut mich an, in seinen Augen wieder diese Melancholie; dann wandert sein Blick über die Dächer, hinab zum Goldenen Horn; er schweigt. Und wieder schaut er zu mir, fragend, zögernd, und sagt sehr leise: Ich bin Arzt, ja, aber ich arbeite weder in einer Praxis noch in einem Krankenhaus, sondern in einem Gefängnis.
    Was macht ein Arzt im Gefängnis – frage ich nicht; sondern sage, dass überall, wo Menschen sind, es natürlich immer auch Kranke gibt, die ärztliche Hilfe brauchen, also auch im Gefängnis.
    Ja, ich tue, was ich kann, sagt er und seufzt. Mehr sagt er nicht.
    Und ich, ich weiß nicht weiter. Die Vorstellung, was ein Arzt im Gefängnis möglicherweise auch tun muss – obwohl, könnte nicht alles auch ganz anders sein?
    Deine Vorstellungen, die auf keinem sicheren Wissen beruhen, nur auf Verdacht.
    Trotzdem, mir ist, dass ich jetzt gehen sollte. Aber ich bleibe sitzen und frage: Wo, in welchem Gefängnis?
    Er zögert, wieder dieser Blick, dann nennt er den Namen des Gefängnisses.
    War nicht auch Nâzım Hikmet dort einmal eingesperrt, vor Jahren, Jahrzehnten?
    Ja, wohl ja, auch Nâzım.
    Andererseits: einer, der liest, und was er liest!
    Aber was heißt das schon, wer was liest!
    Er, neben dem ich noch immer sitze, sagt: In der Türkei gibt es keine Zukunft.
    Ich frage nicht, wie er es meine.
    Wenn er könnte, würde er nach Europa auswandern.
    Nein, ich will nicht wieder vergeblich anreden gegen den Unglauben, dass es dort wirklich und wahrhaftig ganz anders ist, als sie alle hier zu wissen meinen.
    Als Arzt könne er in Europa nicht arbeiten, weil das türkische Examen nicht anerkannt werde.
    Gibt es denn hier für Sie auch als Arzt keine Zukunft?, frage ich nun doch; obwohl mich eigentlich mehr interessiert, wie ich hier anständig wegkomme.
    Ja, als Arzt habe er sein Auskommen, aber die türkische Gesellschaft, wo die heute hindrifte –
    Nun wird er mir mit pantürkisch-nationalistischen Ideen kommen wollen oder mit dem gottgefälligen Leben auf Erden; andererseits: was er liest –
    Nämlich, der Sozialismus ist nicht tot. Er ist nicht untergegangen mit der Sowjetunion, im Gegenteil, die Idee des Sozialismus tritt heute klarer und deutlicher hervor, dank des offenbar gewordenen Missbrauchs, der damit getrieben wurde. Und während er sich weiter über die reine, pure sozialistische Idee ausbreitet, die es in ihrer wahren Gestalt wieder hervorzuholen gelte aus dem Geschichtsschutt der vergangenen Jahrzehnte, beginnen seine Augen zu leuchten. Diese wunderbare Idee, er sei ganz sicher, eines Tages werde doch sie es sein, diese fälschlich Verkannte, die als einzige tauge, die Gesellschaft der Zukunft menschenwürdig zu ermöglichen. Und als ob er ein Bekenntnis ablege, erzählt er mir, dass er gemeinsam mit Freunden daran arbeite, in einem geheimen Zirkel.
    Wie sehr er mir vertraut! Ja, sage ich, die Idee an sich, auch ich hielt sie lange für die einzig mögliche, und auch heute noch finde ich sie bestechend – wenn nur der Mensch nicht wär, wie er ist!
    Sein fragender Blick – ich schaue weg; was seine Augen tagtäglich vielleicht sehen und seine Ohren hören, was seine Hände möglicherweise tun und wie sein Herz und sein Kopf damit klarkommen, ich werde die Frage nicht los. Ich will nicht unhöflich sein, sage ich und wische mir die Sesamkringel-Krümel vom Kleid, ich muss jetzt
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