Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst
Autoren: Klaus Wanninger
Vom Netzwerk:
1.
    Der Schaffner warf nur einen flüchtigen Blick auf den Fahrgast im letzten Wagen. Ob diese Unachtsamkeit eher auf seine zunehmende Erschöpfung oder aber auf die Tatsache zurückzuführen war, dass der Zug in diesem Moment seine Geschwindigkeit verringerte, um im Reutlinger Hauptbahnhof seinen fahrplanmäßigen Halt einzulegen, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Wie sollte ein nach mehr als sieben Stunden Dienst abgekämpfter, fast achtundfünfzig Jahre alter Zugbegleiter nicht einmal zwei Stunden vor Mitternacht auch ahnen, wie wertvoll sich eine detaillierte Beschreibung des Aussehens dieses einsamen Passagiers für die Fahnder des Landeskriminalamts erwiesen hätte?
    Die solchermaßen nur mit flüchtigem Blick bedachte Person registrierte die Unaufmerksamkeit des Schaffners sowie dessen unübersehbar matten Zustand mit Erleichterung, betrachtete ihr Ebenbild, das sich vor dem nachtdunklen Hintergrund der Außenwelt im Fenster des Wagens spiegelte. Ein ausgesprochen männlich wirkendes Gesicht mit breiten Wangenkoteletten und einem frisch gestutzten Oberlippenbart, dazu kurze dunkle Haare und gebräunter Teint. Gute Arbeit, ohne Frage. Nur ein äußerst kritischer Beobachter würde die Kombination von Perücke und Gesichtsmaske bemerken.
    Der Passagier im letzten Wagen spürte das kräftige Bremsen des Zuges, sah das Schild auf dem Bahnsteig. Reutlingen Hauptbahnhof. Keine Zeit mehr, noch länger über die Qualität der Verkleidung nachzudenken. Es war soweit.
    Er schlüpfte in seine Jacke, eilte zur Tür, stieg im Rücken des Schaffners aus dem Zug.
    Der Uniformierte trat zur Seite, machte ihm Platz.
    Der Bahnsteig war hell erleuchtet. Er schritt kräftig aus, eilte in die Unterführung, dann zum Hauptausgang.
    Vor dem Bahnhof warteten eine Handvoll Taxis, dazu mehrere private Fahrzeuge. Ein Auto hupte, Stimmen schrien durcheinander. Die frisch eingetroffenen Reisenden verteilten sich in verschiedene Richtungen. Er wand sich zwischen den Fahrzeugen hindurch, versuchte, das grelle Scheinwerferlicht zu vermeiden. Besser kein Risiko eingehen. Man konnte nie wissen.
    Er passierte die kleine Grünanlage des Listplatzes, wartete an der Ampel, bis eine nicht enden wollende, stinkende und lärmende Autolawine passiert hatte und er endlich grünes Licht erhielt. Blätter wirbelten vom Fahrtwind angesogen durch die Luft, regneten auf die Passanten nieder. Trotz der späten Stunde herrschte reger Betrieb. Gruppen junger Leute, lachend, miteinander scherzend, schlenderten von der Fußgängerzone her auf den Bahnhof zu. Er versuchte, ihnen auszuweichen, starrte auf den Boden.
    Erst in der Gartenstraße wurde es ruhiger. Nur wenige Passanten waren hier noch unterwegs, einzig das grelle Licht der Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge schmerzte. Er nahm die Straße vor sich nur noch in Umrissen wahr, bemerkte den Hund, der auf der Höhe der Planie auf ihn zuschoss erst in dem Moment, als sich das große Tier laut bellend vor ihm aufbaute. Erschrocken wich er ein, zwei Schritte zurück, starrte auf den aggressiv kläffenden Köter. Gänsehaut überzog seinen Rücken; unwillkürlich begann er am ganzen Körper zu zittern. Dass seine rechte Hand in die Hosentasche rutschte, war ein unbeabsichtigter Reflex.
    »Wotan!«
    Das Tier verstummte im selben Moment, als er das kalte Metall der Waffe ertastete. Er sah einen jungen Mann vor sich auftauchen und nach dem Halsband des Hundes greifen, lief schnell weiter.
    »Tut mir leid«, hörte er eine Stimme hinter sich.
    Er drehte sich nicht um, zog die Hand aus der Tasche. Nur keine Dummheiten, nicht jetzt in letzter Sekunde noch das ganze Unternehmen gefährden. Der Köter war es nicht wert. Er fröstelte, als er an das Ding in seiner Tasche dachte, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Nur wenige Minuten noch, dann war es soweit.
    Er lief mit großen Schritten weiter, erreichte die Burgstraße. Jetzt also.
    Eine junge Frau kam um die Ecke, musterte ihn aufmerksam.
    Was gafft die so? Sieht man es mir an?
    »Rolf, bist du es?«, fragte die Frau. Sie hatte ein hübsches schmales Gesicht, war auffällig geschminkt und für den Abend zurechtgemacht.
    Er schüttelte den Kopf, ließ sie stehen. Nein, ich bin nicht dein Rolf. Er spürte das Kribbeln in allen Gliedern, griff vorsichtig in seine Tasche. Alles an Ort und Stelle, kein Anlass zur Beunruhigung. Nur nicht stehen bleiben. Einfach weiterlaufen. Der liebe Rolf würde sicher noch kommen.
    Wenige Minuten später
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher