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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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Oberstein langsam und ohne sie anzusehen.
»Das war doch deine Frage – worauf ich warte? Ich weiß es nicht. Hast du irgendwelche
Erwartungen?«
    [20]  Lea schaut zur Decke. Auch die sieht vergammelt aus. Ein Wasserschaden
vermutlich. Große braune Flecken. Gerade erst gebaut und bereits Wasserflecken. So hatte das Hotel auch auf der Website gewirkt, modern
und doch schon marode.
    »Ja«, will sie sagen, »ich habe Erwartungen, und ob. Und ich kann mir
nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der gar nichts erwartet.«
    Doch bevor sie antworten kann, fragt Oberstein: »Muss man immer Erwartungen
haben? Glaubst du wirklich, dass jedermann welche hat?« Sie findet, dass er sarkastisch klingt.
    Sie denkt an ihre Kinder. An das Blut. Ihre Katze. Ihren Mann. Ihre Arbeit.
    »Ich glaube schon«, antwortet sie mit Nachdruck.
    »Das ist doch nur eine Phrase«, erklärt Roland, und jetzt sieht er sie
an. Mit freundlicher Bestimmtheit. Der Blick von jemandem, der seinen Gesprächspartnern
Phrasen nicht durchgehen lässt.
    »Irgendwann ist ein Thema erschöpft«, antwortet
Lea, den Blick auf ihr leeres Weinglas gerichtet. »Dann muss etwas geschehen, denn
es ist alles gesagt. Wir waren bei der Intimität.«
    Das Wort, das ihr auf der Zunge liegt, will sie nicht aussprechen: Sex.
Sie hat eine Bemerkung in der Luft hängen lassen, er
eine doppeldeutige Frage gestellt. Für ihre Verhältnisse ist das ein gewagtes Gespräch.
So redet sie nicht mit Fremden, nicht mal mit ihren Freunden.
    »Bei körperlicher Intimität. Noch nie habe ich mit einem Fremden so viel
darüber gesprochen wie jetzt mit dir.«
    [21]  Ob körperliche Intimität ihre Erlösung sein könnte? Sie ist an einem
Punkt angelangt, wo Sex als die einzige Rettung erscheint.
    Seine persönlichen Fragen waren eine Spur technisch gewesen, doch keineswegs
unhöflich. Interessiert hatte er geklungen, wie ein Mann mit viel Einfühlungsvermögen.
Vor allem für einen Ökonomen.
    »Ich spreche immer lieber über Dinge, die die Leute wirklich beschäftigen«, sagt Oberstein, während er sein Weinglas anstarrt.
»Bloß Konversation zu machen, empfinde ich als Verschwendung
meiner zeitlichen Ressourcen.«
    Natürlich könnte er sie auch einfach nicht attraktiv finden. Doch warum sollte er dieses Thema dann anschneiden?
In dem Fall redet man eben weiter über den Zweiten Weltkrieg. »Die Shoah und die
europäische Identität« war das Thema der Konferenz. Auf die europäische Identität
war sie in ihrem Vortrag nicht eingegangen. Darüber wusste sie nicht Bescheid.
    »Eine Tat ersetzt tausend Worte. Das kann eine Erlösung sein«, sagt sie.
»Keine Worte mehr. Stille.«
    Lea weiß nicht mehr, wie lange sie schon von einer Affäre träumt; wenn sie nicht irrt, seit ihrer ersten Schwangerschaft mit ihrem Sohn Gabe.
    Lange hat sie gedacht, dass Menschen Phantasien brauchen und dass die
ihnen im Grunde genügen. Ihr Mann hält sie für eine Frau, die von einer Affäre vielleicht träumt, dann aber beschließt, es nicht so
weit kommen zu lassen. Weil ihr im letzten Moment klar wird, dass sie ihn liebt.
Und sei es nur darum, weil er so gut zu den Kindern ist. Fürsorglich, aufmerksam,
gefühlvoll. Im Internet hat sie [22]  schon mal Annoncen studiert, auf der Straße ist
sie einem Fremden gefolgt, während sie eigentlich unterwegs zu einem Zeitzeugen
war, einem Neunzigjährigen. Sie kam eine Viertelstunde zu spät, schweißgebadet,
der alte Mann öffnete ihr, und sie dachte: So kann das
nicht weitergehen.
    Lea beugt sich zu Oberstein. Sie riecht sein Aftershave.
Und den Wein. Zudem einen leichten Geruch nach Pommes frites.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir noch folge«, sagt er. »Du sprichst
so abstrakt. Von wegen Taten – Erfahrungen – Warten – Stille. Es ist auch schon
spät.«
    Ihr Leben kommt ihr vor wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Sie weiß
noch, warum sie es sich einmal ausgesucht hat, doch zugleich, dass sie jetzt etwas
anderes möchte. »Was ist denn daran abstrakt? Bin ich abstrakt?«
    »Wir sind zum Reden hierher nach Frankfurt gekommen«, sagt Roland nach
einigem Zögern. »Dafür sind Konferenzen da: zum Reden, und Zuhören natürlich. Reden
setzt Zuhören voraus, außer, man führt Selbstgespräche. Die Tat wird überschätzt.
Dieser ewige Aktionismus – mein Gott, ehe wir’s uns versehen, reden wir von Revolution.
Nein, natürlich finde ich dich nicht abstrakt. Ich finde dich sehr konkret. Wer war das, der da gerade angerufen
hat? Wenn ich fragen
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