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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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Betriebskantine erinnert, obwohl sie noch nie in einer gewesen ist.
    Lea hat eine Schwäche für arische Typen: blond, helle Haut. Nur ab und
zu hat sie eine Ausnahme gemacht. Roland Oberstein sieht ziemlich arisch aus. Blondes
Haar, helle Haut, blaue Augen. Trotzdem kann das nicht der einzige Grund sein, warum
er solch eine Anziehungskraft auf sie ausübt. Für Verlangen
braucht es mehr.
    Beim Willkommensdiner für die Konferenzteilnehmer und ihre Begleitung
in ebendiesem Raum kam sie mit ihm ins Gespräch. Die meisten Teilnehmer hatten tatsächlich
Begleitung mitgebracht. Eine etwas ältere, leicht ungepflegt
wirkende Dame war mit ihren zwei Enkeln gekommen. Die Frau sollte einen Vortrag
über Moral und Gedächtnis halten.
    Roland Oberstein antwortet immer noch nicht. Allmählich macht sein Schweigen
sie kribbelig.
    Plötzlich klingelt ihr Handy. Sie steht auf und entfernt sich von dem
Tisch, an dem sie und Oberstein sich vor gut einer halben Stunde niedergelassen
haben, nachdem sie gemeinsam von der Abschiedsparty geflüchtet
waren.
    Erst neben dem Frühstücksbuffet, das schon
teilweise aufgebaut ist – Marmelade, Honig und Nusscreme liegen in kleinen Portionspackungen
in einem Korb –, nimmt sie das Gespräch an.
    Die Hotelbar ist leer. Es ist kalt, darum hat sie den Mantel anbehalten.
Obwohl man ihr versichert hatte, das Hotel liege im Zentrum der Stadt, fühlt sie
sich wie mitten in einem Industriegebiet.
    »Außerdem ist das Hotel in der Nähe des Flughafens«, [15]  hatte jemand
von der Organisation ihr gemailt. »Die meisten anderen Konferenzteilnehmer wohnen
auch dort.«
    »Das Hotel sieht so ausgestorben und deprimierend aus«, hatte Lea zurückgemailt,
nachdem sie es im Internet begutachtet hatte. »Ich mag keine deprimierenden Hotels.
Auch wenn sie in der Nähe des Flughafens liegen.«
    Es hatte nichts genutzt. Trotz ihrer Einwände hatte man sie in dem deprimierenden
Hotel untergebracht.
    In der Essensschlange am Buffet, bei den Vorspeisen,
hatte Oberstein am ersten Abend unvermittelt das Wort an sie gerichtet: »Ich hasse
Buffets, das Phänomen an sich«, hatte er gesagt. »Was
sie einem auch vorsetzen, immer erinnert es an eine Armenspeisung. Warum können
sie uns nicht am Tisch bedienen?«
    »Haben Sie Erfahrung mit Armenspeisungen?«, hatte sie gefragt.
    »Nein, und ich bin auch nicht erpicht darauf. Bis man vorn angekommen
ist, ist das Beste längst weg. Aber vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen:
Roland Oberstein, aus den Niederlanden, aber ich unterrichte in den USA , in Fairfax. Mein Spezialgebiet, unter anderem, ist
Adam Smith. Das hier ist ein Kollege von mir aus der Schweiz, Sven Durano. Wir sind
die Wirtschaftswissenschaftler
auf dieser Veranstaltung.«
    Adam Smith. Sie konnte sich nicht erinnern, während des Studiums mal
einen Text von ihm gelesen zu haben.
    Am anderen Ende hört Lea ein Rauschen, aber keine Stimme. »Hallo«, sagt
sie. »Hallo?«
    Unknown number stand auf dem Display. Darum
hat sie abgenommen. Es könnte etwas Dringendes sein.
    [16]  Endlich kann sie etwas verstehen. Eine Stimme: »Hier Anca.«
    Anca. Die Babysitterin. Sie ist neu und kommt aus Rumänien. Man braucht
mindestens vier, weil immer drei nicht können. Sie sind krank, haben Prüfung, ihre
Tante ist gestorben, oder alles auf einmal. Lea sieht Anca vor sich. Spitzes Gesicht,
glattes blondes Haar, abgetragene Jeans, breiter Gürtel, enger Pullover, der ihre
ohnehin beachtlichen Brüste noch hervortreten lässt.
    Lea stützt sich am Frühstücksbuffet ab und
versucht, sich auf Ancas Geschichte zu konzentrieren.
    Leas Tochter hat Nasenbluten. Ava heißt sie, nach Ava Gardner. Leas Großvater
hat ein Faible für Ava Gardner. Hatte, sollte sie vielleicht sagen, denn er ist
dement. Es geht ihm immer schlechter. Wahrscheinlich hat er schon lange vergessen,
wer Ava Gardner überhaupt ist.
    »Alles voller Blut«, sagt die Babysitterin in ihrem gebrochenen Englisch.
»Auch ich.« Es klingt, als finde sie Letzteres am schlimmsten.
    »Leg Ava den Kopf in den Nacken. Dann hört es von allein wieder auf.
Sie hat das öfter. Es ist nicht gefährlich.«
    »Nein«, sagt Anca, »man darf Kopf nicht nach hinten legen, dann verstopft. Muss Nase zudrücken. Es kommt aus linke Nasenloch. Ich
drücke schon zwanzig Minuten, aber hört nicht auf. Darum ich telefoniere.«
    Will eine rumänische Babysitterin ihr erklären, wie man Nasenbluten behandelt?
    »Wie meinst du das, es hört nicht auf?«
    »Fängt immer wieder
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