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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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Benjamin.«
    »Ich weiß, wer Benjamin ist«, sagt Lea. Es klingt pikiert. Sie hört sich
selbst und denkt: Das war nicht souverän.
    »Bist du ein Kenner?«, fragt sie.
    »Von Benjamin? Nein«, antwortet er. Und nach einer [26]  Weile: »Eigentlich
auch kein Verehrer. Es ist ein Geschenk. Ich lese es aus Höflichkeit.«
    Die Frage sollte ein Witz sein, doch offenbar
ist das nicht rübergekommen. Wie kann man die Frage »Bist du ein Kenner?« bloß wörtlich
nehmen? Hält er sie für unrettbar humorlos?
    »Was liest du von ihm?«, fragt sie, während sie vor dem Fahrstuhl stehen.
    » Denkbilder: Der destruktive Charakter.« Er
öffnet das Buch und liest vor: »Der destruktive Charakter
lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord
die Mühe nicht lohnt.«
    Er bricht in lautes Gelächter aus. So lustig findet
sie den Satz nicht.
    Sie drückt auf den Fahrstuhlknopf.
    »Du wirkst auf mich nicht wie ein Selbstmördertyp«, sagt sie.
    »Nein, nicht direkt. Und du?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    Ihre Zimmer liegen auf derselben Etage, der für Nichtraucher. Manchmal
spielt Lea mit dem Gedanken, wieder mit dem Rauchen anzufangen. So wie sie auch
gern einmal Drogen ausprobieren würde, aber sie weiß nicht, welche, und ihr Mann
würde bestimmt auch nicht viel davon halten.
    »Ich habe mich gehenlassen«, sagt sie im Fahrstuhl. »Aber wenn du mich
jetzt für eine Frau hältst, die sich ständig gehenlässt, muss ich diesen Eindruck
korrigieren.«
    Sie sind im vierten Stock angelangt.
    »Wie war gleich noch mal deine Zimmernummer?«, fragt sie.
    [27]  Er holt die Karte hervor, die hier als Türöffner
dient, und wirft einen Blick darauf. »407«, sagt er.
»Und du?«
    »412.«
    Zu Beginn des Abends fühlte sie sich attraktiv und begehrt, doch das
ist vorbei. Jetzt empfindet sie vor allem Scham sowie
die alte Sehnsucht, sich in Luft aufzulösen.
    Vor ihrem Zimmer bleiben sie stehen. In der Handtasche sucht sie nach
ihrer Magnetkarte. Sie findet alles Mögliche, Visitenkarten,
ihr Namensschild, alten Lippenstift, neuen Lippenstift, ihr Handy, Pistazienschalen, doch die Plastikkarte bleibt
verschwunden.
    »Ich lasse mich auch selten gehen«, sagt Roland Oberstein. »Es gibt Leute,
die sich darüber beklagen. ›Schalt doch mal ab‹, sagen die. – Aber wie? Ich weiß
nicht, wo der Knopf ist. Wenn du dich also mal gehenlässt, ist das durchaus positiv.
Menschlich. Sehr menschlich.«
    Sie fragt sich, was sie von diesem Mann will, vor allem, weil sie nun
fast sicher ist, dass sie nichts bekommen wird. Doch das ist ja gerade, woraus sich
das Verlangen nährt: dass man davon ausgeht, nichts zu bekommen, und doch auf das
Gegenteil hofft.
    Als sie die Karte endlich gefunden hat, fragt sie: »Wie fandest du die
Tagung?«
    Oberstein zuckt mit den Schultern.
    »Ich weiß nicht«, sagt er. »Schwer zu sagen. Das Thema ist nicht mein
Fachgebiet.«
    »Was bedeutet die Thematik denn dann für dich?«, fragt Lea.
    Er scheint zu zögern. »Der Holocaust?«, fragt er schließlich. »Ein Hobby.
Eine Liebhaberei.«
    [28]  Sie schaut ihn an, wie er so dasteht in seinem blauen, halblangen
Mantel, den Kopf schräg gelegt, spitzbübisch, fast kokett.
    Liebhaberei, ein Wort wie eine Keule. Wird er so auch einmal von ihr
reden? »Es war ein Hobby, eine Liebhaberei, wie der Holocaust.« Oder wird er sagen:
»Selbstmord ist die Mühe nicht wert, darum ist das Leben für mich nur ein Hobby.
Schade, dass nicht alle so denken.«
    »Darf ich dich umarmen?«, fragt sie.
    »Bitte sehr«, antwortet er.
    Sie umarmt ihn, zwei, drei Sekunden. Hält ihn umfangen, ohne ihn an sich
zu pressen, umarmt ihn wie ein Kind, das man trösten will. Jetzt könnte sie es ihm
sagen, flüsternd, so dicht ist ihr Mund an seinem Ohr.
Wenn man zu Gott betet, warum dann nicht auch mal einen Mitmenschen belästigen?
Doch sie lässt ihn los.
    Sie steckt die Magnetkarte ins Schloss. Das Licht der Schließelektronik
springt auf Grün. Sie öffnet die Tür. »Wollen wir uns
morgen ein Taxi zum Flughafen teilen?«, fragt sie.
    Roland rührt sich nicht vom Fleck, das Buch von Benjamin unter dem Arm.
    »Gute Idee«, sagt er. »Sehe ich dich morgen beim Frühstück? Neun Uhr?«
    »Neun Uhr«, bestätigt sie.
    Er scheint noch etwas sagen zu wollen. Vielleicht kommt es jetzt, das
entscheidende Wort.
    »Findest du es nicht seltsam, wenn eine Konferenz über den Holocaust
mit einer Party endet?«, fragt er. »Oder bin ich der Einzige, der das so
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