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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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darf. Mit wem hast du gesprochen? Oder ist das zu intim?«
    Er lacht. Sie versteht nicht, warum.
    »Es ist nicht zu intim«, sagt sie.
    Wieder macht er den Eindruck, sich wirklich für ihre Antwort zu interessieren;
er scheint alles wissen zu wollen.
    [23]  Vor zwanzig Minuten hat die Barfrau gesagt: »Ich mach Feierabend,
aber bleiben Sie ruhig noch sitzen.«
    Die Bar in diesem Hotel schließt früh. Sie sind sitzen geblieben. In
einem schicken Lokal in der Stadt hatte man für die Teilnehmer eine Abschiedsparty
organisiert. Roland Oberstein hatte zu ihr gesagt: »Ich weiß, es klingt schrecklich,
aber ich mag keine Partys. Wenn du noch etwas trinken willst, gern, aber hier bleibe
ich nicht. Nicht bei dieser Musik.«
    »Es war die Babysitterin«, sagt Lea. »Sie hat Nasenbluten.«
    »Die Babysitterin?«
    Wieder legt er ihr die Hand aufs Knie. Sie lässt die Hand dort liegen.
    Vielleicht ist er schüchtern. Vielleicht macht er darum keinen weiteren
Vorstoß. Die Schüchternheit von Männern, ihre Angst: Ganze Bücher könnte man damit
füllen.
    »Hier haben Sie meine Visitenkarte«, hatte Sven Durano gesagt, am ersten
Tag in der Schlange, und ihr die Karte mit einem Lächeln auf den Tellerrand gelegt,
während Oberstein vor ihnen sich schon am Buffet bediente.
Oberstein hatte ihr keine Visitenkarte gegeben. Er hatte auch kein weiteres Wort
mehr mit ihr gewechselt. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Erst später bei
Tisch hatte er sie gefragt: »Und wie siehst du das? Ist die Shoah der Eckpfeiler
der europäischen Identität?«
    »Meine Tochter«, sagt Lea. »Es kommt aus ihrem linken Nasenloch, behauptet
die Babysitterin, eine Rumänin. Und es hört nicht auf. Sie sagt, dass sie das Nasenloch
zudrückt. Schon seit zwanzig Minuten. Kannst du dir das vorstellen?«
    [24]  Ehe sie begreift, was sie tut, packt sie
Roland Obersteins Nase und kneift kräftig hinein. »So kuriert man doch kein Nasenbluten, jetzt sag
mal selbst! Man hält doch den Kopf nach hinten?! Man kneift
doch nicht in die Nase?«
    Sie lässt Oberstein los und schaut zu Boden.
    »Entschuldigung«, sagt sie. »Ich weiß nicht, was über mich kam. Tut mir
leid.«
    Oberstein reibt sich die Nase.
    »Entschuldigung, wofür?«
    »Dass ich dir in die Nase gekniffen habe.«
    »Es hat nicht weh getan.«
    »Es tut mir leid. Es muss an der Müdigkeit liegen oder am Alkohol oder
ich weiß nicht, woran. Jetzt nimmst du mich bestimmt nicht mehr ernst.«
    »Es macht nichts. Du hast dich über den Babysitter geärgert. Ich hab
keine Erfahrung mit Babysittern, aber ich kann mir gut vorstellen, wie entnervend
das ist.«
    »Ich schäme mich so.«
    »Das ist nicht nötig«, sagt Roland. »Hast du schon je einem Mann, den
du kaum kennst, in die Nase gekniffen?«
    »Du bist der erste.«
    Er legt ihr die Hand auf die Schulter, und für einen Moment hat sie das
Gefühl, dass er sie an sich drücken will.
    »Ich fühle mich geehrt«, sagt er. »Kneif mir jederzeit wieder in die
Nase, wenn du das Bedürfnis danach hast. Wir meinen, uns selber zu kennen, täuschen
uns aber oft über unsere wahren Bedürfnisse.«
    Er lässt ihre Schulter los.
    »Wie alt ist sie denn?«
    »Wer?«
    [25]  »Deine Tochter.«
    »Zwei, fast drei. Ich habe schon ein Geschenk für sie, aber für meinen
Sohn muss ich noch etwas finden. Das darf ich nicht vergessen.
Erinnere mich dran.«
    Er schaut auf die Uhr. »Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass
das Gespräch mich langweilt, aber eigentlich würde ich jetzt gerne ins Bett.«
    Sie steht abrupt auf. Sie spürt, dass man ihr ihr Unbehagen anmerkt,
sie fühlt sich ertappt, und das ärgert sie. »Du hast recht«, sagt sie. »Es ist spät.«
    Er hat sich ebenfalls erhoben. Sie hat seinen Vortrag verpasst. Sie hatte
ihn hören wollen, doch dann war sie spazieren gegangen und hatte die falsche S-Bahn
erwischt. Der Zug endete in einem Vorort von Frankfurt, in bewaldeter, hügliger
Umgebung. Statt Obersteins Vortrag zu hören, hatte sie sich auf eine Bank auf dem
Friedhof gesetzt.
    »Ist dein Mann nicht zu Hause? Der könnte sich doch um das Nasenbluten
deiner Tochter kümmern? Entschuldige, wenn ich mich einmische, aber wenn so ein
Bluten nicht aufhört, würde ich auch panisch.«
    »Mein Mann arbeitet viel.« Sie sieht ihm direkt in die Augen, wie um
den Arbeitsdruck ihres Mannes zu betonen. »Und er ist verrückt nach den Kindern.«
    Langsam gehen sie Richtung Fahrstuhl.
    »Was liest du da eigentlich?«, fragt sie.
    »Benjamin. Walter
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