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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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an«, sagt Anca. Lea fragt sich, ob [17]  Anca so verzweifelt
klingt, weil sie kein Blut sehen kann oder weil sie ihrem Job einfach nicht gewachsen
ist.
    »Wo sind die Kinder jetzt?«, will sie wissen.
    »Sie sitzen vor Fernsehen.«
    Lea will das Gespräch beenden. Sie hat nicht vor, um diese Uhrzeit an
einem Sonntagabend eine Diskussion über Nasenbluten zu führen. Daheim in Brooklyn
geht sie mit ihren Kindern manchmal in den Prospect Park ganz in ihrer Nähe, wo
sie sich gemeinsam die Schwäne angucken. Dann stellt sie sich vor – so beginnt ihr
Tagtraum immer –, wie die Kinder an einem kalten Herbstnachmittag immer näher ans
Wasser heranlaufen, bis sie zuletzt ganz darin verschwinden und nicht mehr auftauchen.
Nur die Schwäne schwimmen noch im Teich, wie immer. Und sie steht am Ufer. Dann
schiebt sie den Kinderwagen, in dem nur noch die Reiswaffeln
liegen, langsam nach Hause. Damit endet ihr Tagtraum. Doch er kehrt immer wieder.
    »Gibt es hier noch mehr Ökonomen?«, hatte Lea am ersten Abend in der
Buffetschlange gefragt. »Ich wusste nicht, dass auch
Wirtschaftswissenschaftler
zur Konferenz eingeladen waren.«
    »Wir sind die Einzigen«, hatte Oberstein geantwortet. »Hier sind wir
die Außenseiter.«
    Sie hatte freundlich gelacht. »Außenseiter.« Das sollte bestimmt ein
Witz sein.
    »Anca, du wirst mit so einem Nasenbluten doch wohl allein fertig! Du
willst mir doch nicht erzählen, dass du mir deswegen bis nach Deutschland hinterhertelefonierst?«
    »Ihr Sohn ist auch voll Blut, Missis Lea. Hier große Problem.«
    [18]  Sie klingt hysterisch. Lea hätte eine andere nehmen sollen. Beim Vorstellungsgespräch
wirken sie ruhig und freundlich, aber kaum ist man weg, drehen sie durch.
    »Hat mein Sohn auch Nasenbluten?«
    Lea beginnt, in der leeren Bar hin und her zu laufen.
    Roland Oberstein hat sich mittlerweile auf einem heruntergekommenen Sofa
am Fenster niedergelassen, ein Buch hervorgeholt und liest. Sie mustert ihn, seine
Haare, sein Hemd, seine Nase, doch er erwidert den Blick nicht. Oberstein scheint
die Kälte nicht zu spüren. Er sieht nicht aus wie ein Wirtschaftswissenschaftler, sie könnte ihn
sich eher als Dirigenten vorstellen oder als zweiten Geiger in einem Orchester.
Ein biederer Musiker mit durchschnittlichen Ambitionen.
    Während Lea sich etwas zu essen nahm, ein paar Garnelen und ein wenig
gebratenen Ziegenkäse, hatte Sven Durano gesagt: »Ich bin auch Historiker, nicht
nur Ökonom, und insofern hier weniger Außenseiter als Oberstein. Der ist nur Ökonom.
– Sie befassen sich bestimmt auch mit Geschichte?«
    Sven Durano hatte ihre Brust angestarrt, zweifellos auf der Suche nach
ihrem Namensschild. Sie hasst Namensschilder. Ihres hatte sie sich am Hoteleingang
heruntergerissen und es in die Handtasche gesteckt.
    »Von Hause aus bin ich Kunsthistorikerin, mein Spezialgebiet hier hat
wenig mit meinem Studium zu tun.« Sie hatte erwartet, dass er irgendwie nachfragen
würde, nach ihrem Spezialgebiet, dem Grund ihrer Anwesenheit auf dieser Tagung,
doch Durano hatte nur ihren Blick gehalten und freundlich gesagt: »Die Garnelen
sehen gut aus!«
    [19]  »Hat mein Sohn auch Nasenbluten?«, fragt Lea noch einmal.
    Sie spricht immer leise. Als hätte sie Angst, jemand könnte sie abhören,
so leise, dass man sie oft nicht versteht.
    Als Kind wollte sie sich immer am liebsten in Luft
auflösen. Das Flüstern nimmt die Stille der definitiven
Abwesenheit gewissermaßen vorweg. Noch immer sehnt sie sich manchmal nach dem Unsichtbarsein.
    »Ihr Sohn ist voll Blut von Tochter. Es kommt aus linke Nasenloch. Hört
einfach nicht auf. So was noch nie erlebt.«
    Anca klingt, als würde sie jeden Moment losheulen. Lea findet den Überfluss an Details,
mit denen sie das Nasenbluten beschreibt, unangenehm.
    »Sowie Ava nicht mehr blutet, kannst du Gabe waschen. Mein Mann kommt
bald nach Hause und kümmert sich um den Rest. Es ist nichts Schlimmes. Sie sind
Kinder. Die haben manchmal Nasenbluten. Es tropft etwas
nach, so was kommt vor. Aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen.«
    Ihr Sohn heißt eigentlich Gabriel, doch alle nennen ihn Gabe. Er ist
nicht nach einem Filmstar benannt.
    Lea geht zu dem Sofa, setzt sich neben Roland und steckt das Handy in
ihre Handtasche.
    Ihr leeres Weinglas steht noch auf dem Tisch, wo schon für das Frühstück
gedeckt ist. Sie fragt sich, ob das Weinglas wohl noch dastehen wird, wenn morgen
früh die ersten Gäste erscheinen.
    »Ich weiß es nicht«, sagt Roland
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