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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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es auf, liest eine unterstrichene Passage:
    »›Und persönlich?‹
    ›Persönlich? Was kann es bei mir schon Persönliches geben? Kamin, Block
und wieder Kamin. Ich hab hier ja niemanden. Ach, doch was Persönliches, wenn du’s
wissen willst: Wir haben uns eine neue Methode der Verbrennung im Kamin ausgedacht.
Weißt du, wie?‹
    Ich täusche höflichkeitshalber Interesse vor.
    ›Es geht so: Wir nehmen vier Kinder, binden sie an den Haaren zusammen
und stecken die Haare an. Das brennt dann von selbst und ist gemacht. ‹
    ›Gratuliere‹, sagte ich nüchtern, ohne Begeisterung.
    Er lachte eigenartig und sah mir in die Augen.
    ›Du, Pfleger, bei uns in Auschwitz müssen
wir uns doch irgendwie amüsieren. Wie würde man es sonst aushalten.‹«
    Oberstein klappt das Buch zu. »Ich habe mich sehr kultiviert amüsiert,
mich trieb bloß die Neugier«, sagt er leise.
    Er legt das Buch in den Koffer.
    Jetzt muss er nur noch seine Kleidung einpacken.
    Es klopft an der Tür.
    Jonathan und Sylvie sind gekommen, um sich zu verabschieden.
    Der Junge bleibt neben seiner Mutter stehen, an ihrer Hand.
    Sie schauen zu, wie Roland die letzten Kleidungsstücke zusammenlegt.
    »Meinst du, dass sie dich an der George Mason noch haben wollen?«, fragt
Sylvie.
    [676]  »Wenn nicht, bleibt mir immer noch Neuseeland. Auch da gibt es Universitäten.«
    Er setzt sich auf seinen Koffer.
    Sein Handy klingelt. Eine niederländische Nummer, die er nicht kennt.
Er zögert.
    Er nimmt das Gespräch an.
    »Hier ist Lieke. Ich hab eine Weile gebraucht, Ihre Nummer herauszufinden. Aber ich hab noch ein Buch von Ihnen. Sie haben es
im Stall liegenlassen. Soll ich es Ihnen vorbeibringen? Ich dachte, ich gebe es
Ihnen an der Uni, aber da hab ich Sie nicht mehr gesehen. Das Buch steckt schon
seit Tagen in meiner Tasche.«
    »Ich bin unterwegs nach Schiphol.«
    Einen Moment ist es still.
    »Da kann ich auch hinkommen«, sagt Lieke. »Ich hab ein Studentenabo für
den öffentlichen Nahverkehr.«
    »In Ordnung«, sagt er. »Dann bis in zwei Stunden am Schalter von Continental.«
    Er steckt das Handy ein.
    Sylvie stellt sich direkt vor ihn.
    »Muss ich mir Sorgen machen?«, fragt sie.
    »Um mich?« Er schüttelt den Kopf. »Ich bin eine Überlebensmaschine. Überleben
ist mein Spezialgebiet.«
    Er steht auf, schaut sich um. Nichts vergessen.
    »Weißt du, wer wieder was von sich hat hören lassen?«, fragt sie.
    Er schüttelt den Kopf.
    »Lysander.«
    »Oh – schön.«
    Er nimmt den Koffer.
    [677]  Er umarmt seinen Sohn. »Tschüs, mein Lieber«, sagt er. »Mein großer
Freund. Mein bester Freund. Ich werd dich vermissen.«
    »So’n Mist!«, ruft Jonathan. »Jetzt bin ich
tot!« Er klappt sein Nintendo-Spiel zu. – »Papa, was ist eine Peitsche?«
    »Wie kommt er jetzt darauf?«
    Sylvie zuckt mit den Schultern.
    »Eine Peitsche ist was für Pferde«, sagt Oberstein leise. »Um sie anzutreiben.
Damit sie schneller laufen.«
    Hastig umarmt er die Mutter seines Sohns. Es wirkt hölzern.
    »Ich hab dich nie anders gekannt«, sagt Sylvie. »So warst du schon immer.«
    Neben ihr steht ihr Sohn. Sein Sohn. Ihr gemeinsames Kind.
    »Wie denn?«, fragt Roland. »Wie bin ich denn?«
    47
    Jonathan ist bei einem Freund.
    Sylvie geht die Treppe hinauf. Seit Monaten ist sie nicht hier gewesen.
    Im Wohnzimmer riecht es muffig. Auf dem Tisch
liegt die Post von Wochen.
    Nirgends eine Spur von Leben.
    Sie geht ins Schlafzimmer. Der muffige Geruch
wird immer stärker.
    [678]  Das Zimmer ist dunkel.
    Lysander liegt auf der Matratze.
    Regungslos, mit offenen Augen.
    »Du hast mich ein paarmal angerufen«, sagt sie. »Da bin ich wieder.«
    Keinerlei Reaktion.
    Sie geht in die Hocke, sieht ihn an, soweit das im Dunkeln möglich ist.
    In dieser Stellung verharrt sie ein paar Minuten.
    »Was hast du mit all diesen Männern getrieben?«, fragt er zu guter Letzt.
    Seine Stimme klingt tiefer, als sie sie in Erinnerung hat.
    »Was für Männer? Ich war bei meinem Kind.«
    Keinerlei Reaktion.
    Sie will aufstehen. Das hier muss sie sich nicht antun.
    Plötzlich schießt sein Arm unter der Decke hervor. Er packt sie am Handgelenk,
nicht wie mit Händen, mit Klauen. Er drückt seine Nägel tief in ihr Fleisch.
    »Wo warst du die ganze Zeit?«
    48
    Roland Oberstein sitzt auf dem Bett im Best Western in Fairfax.
Sein altes Zimmer war schon vergeben. Doch auch hier eine Wanne, in der man sich
nötigenfalls die Pulsadern aufschneiden könnte.
    [679]  Auf dem Nachttisch ein Foto von
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