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Lohn des Todes

Titel: Lohn des Todes
Autoren: Ulrike Renk
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    |7| Kapitel 1
    »Das Opfer, vermutlich ein über achtzigjähriger Mann, starb durch einen Stich in den Brustkorb zwischen der zweiten und dritten
     Rippe rechts. Zudem wurde ihm die Kehle durchgeschnitten. Auffällig ist, dass nur wenig Blut austrat.« Martin räusperte sich.
     »Das lag daran, dass ihm zuvor mehrere Schnittwunden zugefügt wurden.«
    »Man hat ihn quasi ausbluten lassen, bevor er starb?« Die Stimme des Mannes klang entsetzt.
    »Richtig. Die Wunden waren nicht tödlich, führten jedoch zu einem hohen Blutverlust. Spuren an den Hand- und Fußgelenken deuten
     auf Fesselungen hin. Der Mann war unbekleidet. An Brustkorb, Rücken und Gesäß wurden ihm Brandwunden zugefügt, ich vermute
     durch Zigaretten. Außerdem sind unterblutete Striemen auf dem Gesäß und den Fingern zu sehen.« Martin klang wie immer ruhig
     und sachlich.
    »Er wurde gequält und misshandelt, und zwar, bevor ihm die Schnittwunden zugefügt wurden«, sagte Maria, Martins Assistentin.
     Ich zuckte zusammen. Was machte sie hier? Was machten alle hier?
    Es war Freitagnachmittag, das erste schöne Wochenende im April. Martin sagte mir, dass er noch arbeiten müsse. Deshalb hatte
     ich mich spontan entschieden, zu unserem Wochenendhaus in Hechelscheid, einem kleinen Ort am Rursee, zu fahren. Doch nun war
     Martin auch hier und obendrein nicht alleine.
    Ich war die »Himmelsleiter« bis zu »Haus Frings« gefahren. Die Straße führt dort schnurgerade, aber mit einer Steigung von
     zehn Prozent von Aachen in die Eifel, daher ihr Name. Jedes Wochenende fuhren Hunderte von Motorradfahrern |8| diese Strecke, um zu den kurvigen Straßen der Eifel zu gelangen, so auch heute. Bei »Haus Frings« bog ich links ab und fuhr
     langsam in Richtung Simmerath.
    Vor zwei Jahren hatten Martin und ich das kleine Haus auf der Rückseite des Friedhofs in Hechelscheid gekauft. Martin arbeitete
     im Institut der Rechtsmedizin in Köln, und ich hatte eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Aachen. Wir suchten
     einen Ort zwischen unseren Arbeitsstätten, an dem wir unsere freie Zeit abseits von Stress und Hektik miteinander verbringen
     konnten. Das alte Haus aus dickem Sandstein schien ideal zu sein. In mühevoller Kleinarbeit entkernten wir das heruntergekommene
     Haus und begannen, es zu renovieren. Nach einem Jahr verließ uns die Begeisterung, und wir beschlossen, uns Hilfe durch Handwerker
     zu holen.
    Die Sonne stand hoch am Himmel, der Raps schien zu glühen. Ich kurbelte das Seitenfenster hinunter und sog die klare Luft
     tief ein. Mein Herz pochte.
    Es war das erste Mal seit dem vergangenen Herbst, dass ich alleine in die Eifel fuhr. Damals hatte es eine Mordserie gegeben.
     Martin war an den polizeilichen Untersuchungen beteiligt gewesen, und ich war bedroht worden.
    Meine Hände wurden schweißfeucht, als ich daran dachte. Ich wischte sie an meiner Jeans ab, versuchte tief und ruhig zu atmen.
     Charlie, mein Hund, bemerkte meine Unruhe. Er hob den Kopf und sah mich mit seinen treuen Augen an.
    »Ist ja schon gut«, murmelte ich. »Ich bin ein wenig nervös, aber das darf ich sein.«
    Seitdem war ich nicht mehr alleine in der Eifel gewesen. An diesem Wochenende wollten Martin und ich zusammen nach Hechelscheid
     fahren. Doch gegen Mittag hatte er angerufen und mir mitgeteilt, dass er durch einen Mordfall aufgehalten wurde.
    Ich hatte mich sehr auf das gemeinsame Wochenende gefreut, zumal unsere Beziehung seit einiger Zeit kriselte. Durch die Mordserie
     hatte ich mich verändert und mich eine Zeitlang in mich zurückgezogen. Mir wurde bewusst, dass ich so keine |9| Probleme löste, sondern nur noch mehr schuf. Dem wollte ich entgegenwirken. Ich hatte gehofft, an diesem Wochenende Zeit für
     einige fällige Gespräche zu finden. Doch Martins Arbeitszeiten waren nicht immer planbar, Tote hielten sich nicht an Termine.
     Dafür konnte er nichts, das war mir bewusst, und trotzdem war ich wütend. Ich nutzte meine Wut, wandelte sie in positive Energie
     um und beschloss, alleine in die Eifel zu fahren, das erste Mal seit »damals«.
    Aber schon bei Kornelimünster fing ich an zu zweifeln. Hinter Roetgen bereute ich meinen Entschluss und überlegte umzukehren.
     Trotzdem fuhr ich weiter. Aus den Lautsprechern erklang »Where is my mind« von den Pixies. Ich spielte das Lied wieder und
     wieder, eine Art Mantra, das mich vorwärtsbrachte.
    Als ich die Serpentinen verließ und auf die kleine Straße zu unserem Haus einbog, war der
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