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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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habe
den ganzen Tag gearbeitet. Ich brauche dich dringend. Verstehst du? Liebling.«
    »Aber ich bin auf einem anderen Kontinent. Ich gehe gerade zu Bett. Es
muss doch nicht alles an mir hängenbleiben?« Sie legt den Kamm hin. Sie nimmt wieder
die Zahnpastatube und schraubt den Deckel ab.
    »Du hast sie als Babysitter eingestellt, Lea. Ich finde, du bist verantwortlich dafür, dass sie aufhört zu heulen.
Ich kümmre mich um meine Babysitter, kümmre du dich um deine.«
    Sie mag es nicht, wenn er sie mit ihrem Namen anredet. Er benutzt ihn
nur, wenn er sie zurechtweisen oder ihr etwas verbieten will. Lea, heute Abend kannst du mit deinen Freunden nicht ausgehen, ich
muss meine Rede für morgen vorbereiten, heut Abend geht echt nicht. Oder:
So hatten wir das nicht verabredet, Lea.
    »Jetzt hören wir doch auf, uns was vorzumachen.«
    [43]  »Was vorzumachen?«, fragt Leas Mann.
    »Dass wir eine perfekte, gleichberechtigte
Ehe führen.«
    »Lea, ich will nicht über unsere Ehe diskutieren, und auch nicht über
die Rezession. Ich rede über diese Frau, die da im Wohnzimmer auf unserem Sofa sitzt
und heult. Sie ist ein dringenderes Problem als unsere Ehe, verstehst du?«
    »Ist sie immer noch da?«
    »Ja«, schreit Leas Mann. »Darum rufe ich an. Verstehst du jetzt? Weil
deine Babysitterin auf unserem Sofa herumheult, als hätte man ihre Familie ausgerottet,
während du dich auf einer gottverdammten Holocaustkonferenz amüsierst. Der Holocaust
ist vorbei. Darüber braucht man keine Konferenzen mehr zu veranstalten. Der Holocaust
war vor über sechzig Jahren. Die Konferenzen kommen zu spät. Über Babysitter müsste
man Konferenzen organisieren.«
    »Geh zu ihr«, sagt Lea gefasst. »Gib ihr das Geld, und sag, dass alles
gut wird, dass sie ihr Bestes getan hat. Aber dass sie jetzt nach Hause gehen soll.«
    »Aber sie hat nicht ihr Bestes getan. Sie ist eine Katastrophe von Babysitter.
Wir müssten sie verklagen.«
    »Jason!« Mit der Linken hält Lea sich am Waschbecken fest. Ihr ist schwindlig.
Sie hat ein hohles Gefühl im Magen, als hätte sie seit mindestens vierundzwanzig
Stunden nichts mehr gegessen. »Das darfst du nicht sagen. Sie kann dich verstehen.
Anca ist traumatisiert. Sag ihr, dass sie keine Katastrophe ist. Sonst tut sie sich
noch was an.«
    »Ich werd es ihr sagen, wenn sie verspricht, nie mehr wiederzukommen.
Wenn sie schwört, nie mehr einen Fuß über unsere Schwelle zu setzen.«
    Sie hört ihren Mann reden und fragt sich, ob er auch nur [44]  einen blassen
Schimmer hat, was in ihr vorgeht. Das hat sie sich schon öfter
gefragt, doch jetzt, in dem kleinen Badezimmer dieses komfortablen und doch deprimierenden
Hotels in einer trostlosen Gegend von Frankfurt am Main, wird ihr deutlich klar,
dass ihr Inneres ihn absolut nicht interessiert. Wie manche Leute einen bestimmten
Film nicht sehen, ein bestimmtes Buch nicht lesen wollen oder sagen: »Ich lese keine
Romane.« Er will es nicht wissen. Er tut alles, um nur ja nicht zu erfahren, wer
sie ist.
    Lea hört ihren Mann rufen: »Du bist keine Katastrophe, du hast dir echt
Mühe gegeben.«
    »Jason«, sagt Lea leise.
    »Ja?«
    »Bist du noch da?«
    »Ja, ich bin da«, antwortet Jason. »Weinst du?«
    »Nein«, antwortet Lea. »Ich weine nicht. Sie heißt Anca. Die Babysitterin
aus Rumänien. Sie heißt Anca.«
    »Aber ich habe dich angeschrien. Weinst du
auch wirklich nicht?«
    »Meist muss ich weinen, wenn du mich anschreist. Aber heute nicht. Ich
bin zu müde dazu. In Rumänien passieren schreckliche Dinge. Wir wissen nicht, was
sie durchgemacht hat.«
    »Es ist mir egal, wie sie heißt. Warum kann sie die Kotze der Katze nicht
wegmachen? Überall passieren schreckliche Dinge. Das ist doch kein Grund, die Kotze
unserer Katze nicht aufzuwischen.«
    »Das stimmt, Jason. Da hast du recht.«
    »Was ist los in Rumänien?«
    »Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich hab was darüber [45]  gelesen, in
der Zeitung. Was über Waisenhäuser und Korruption.«
    »Dann hab ich das nicht mitbekommen. Entschuldigung,
Lea.«
    »Morgen Abend bin ich wieder zu Hause. Sieh zu, dass sie nicht so überdreht
aus dem Haus geht. Gib ihr Geld. Tröste sie ein bisschen. Sag ihr, es ist nicht
so schlimm.«
    »Ich liebe dich.«
    »Ich dich auch.«
    »Möchtest du noch mit den Kindern sprechen?«
    Lea zögert.
    »Nein«, sagt sie. »Tut mir leid. Ich kann jetzt nicht. Ich bin zu groggy.
Sag ihnen, dass ich morgen wieder da bin. Und dass ich sie ganz doll liebhab. Aber
jetzt kann ich
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