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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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lustig?«
    »Nein, ich finde es nicht lustig. Ich bin
fremdgegangen.«
    Für einen Moment ist es still.
    »Wann?«
    »Jaah, jetzt tippst du auf einmal nicht mehr, was?«, ruft sie. »Jetzt habe ich deine volle Aufmerksamkeit! Jetzt wird
nicht mehr getippt!«
    »Wann?«, fragt Roland.
    »Jetzt tippt der gnädige Herr nicht mehr, was? Jetzt ist das Tippen auf
einmal vorbei?!«
    »Ich tippe immer noch.« Auch Roland erhebt nun die Stimme. »Wenn du nicht
so schreien würdest, könntest du hören, dass ich immer noch tippe. Hörst du? Ich
tippe. Tipp, tipp, tipp. Ich will nur eins wissen: wann?«
    2
    Lea hat geduscht, Gesicht und Körper mit dem Showergel des
Hotels gründlich gewaschen. »Shampoo & Body Wash« steht darauf.
    Vor dem Badspiegel umwickelt sie sich mit einem Handtuch. Eine kleine
Neonröhre verbreitet grelles Licht. Wie beim Zahnarzt. Sie wollte sich gerade die
Zähne putzen, als ihr Handy klingelte. Vielleicht kam ihr darum der Zahnarzt [40]  in
den Sinn. Ihrer ist ein recht attraktiver Mann. Ab und zu hat sie schon mal über
ihn phantasiert, doch das hat sie über viele.
    Sie legt die Zahnpastatube aufs Waschbecken und nimmt das Gespräch an.
»Ich komme nach Hause«, schallt es ihr entgegen, »und hier herrscht ein einziges
Chaos! Die Kinder am Heulen, überall Blut, und die Katze ist krank.«
    Sie klemmt sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und verschließt die
Zahnpastatube wieder. »Ja«, sagt sie. »Ich höre.«
    Lea ist müde. Fürchterlich müde. Sie kann nicht schlafen. Schon seit
Tagen, seit Wochen. Eine Freundin von ihr meint, das liege an den Tabletten, die
sie nimmt, um frivoler zu wirken.
    »Ich komme nach Hause«, hört sie wieder, »und die Kinder am Heulen, Blut
in der Küche, im Wohnzimmer, im Bad, die Katze ist krank, und die Babysitterin sitzt
tränenüberströmt auf dem Sofa!«
    »Was macht sie?«
    »Sie heult. Sie hat da gesessen und geflennt,
als ich hereinkam. Kaum aufgesehen hat sie. ›Hallo‹, hab ich gesagt. ›Was ist los?
Wenn ich fragen darf?‹ Keine Antwort. Nur noch mehr Geschluchze. Wo hast du die
her? Aus einer psychiatrischen Anstalt?«
    »Ich kann das nicht haben, wenn du so schreist«, sagt Lea. »Wenn du schreist,
muss ich weinen. Das weißt du.«
    »Weinst du jetzt?«, fragt ihr Mann.
    »Nein, jetzt nicht«, antwortet Lea. »Ich stehe im Bad und wollte mir
gerade die Zähne putzen. Hier ist es mitten in der Nacht.«
    [41]  »Warum hast du sie als Babysitter genommen?«
    »Weil keine andere zu kriegen war«, sagt sie so beherrscht wie möglich.
»Als ich mit ihr redete, war sie ruhig und freundlich.«
    »Ruhig und freundlich?«
    Lea sieht das spitze Gesicht wieder vor sich und den enganliegenden Pullover.
Während ihrer Schwangerschaft hatte Lea einen regelrechten
Atombusen. Jetzt haben ihre Brüste wieder Normalgröße. Nun ja, normal – was ist
schon normal?
    »Sie sagte, sie hätte Erfahrung.«
    »Hörst du das hier?«
    Lea hört nichts. Sie hat unwillkürlich zu ihrem Kamm gegriffen und steht jetzt damit vor dem Spiegel.
    »Ich höre nichts«, sagt sie. Sie horcht, aber am anderen Ende nur Rauschen
und entfernt die Stimmen der Kinder. Sie schreien.
    »Sie heult immer noch. Deine Babysitterin mit Erfahrung. Sind keine zu
kriegen, die nicht heulen? So schwierig kann das doch nicht sein. Wir haben eine
Krise. Alles sucht Arbeit. Der Gedanke, dass wir die Kinder in den Händen dieser
Frau gelassen haben, macht mich rasend.«
    »Ja, wir haben Rezession«, sagt Lea, während sie überlegt, ob sie sich
die Haare abschneiden soll. »Eine Depression sogar. Wir stürzen in den Abgrund.
Aber Babysitter bleiben schwierig zu kriegen. Auch in der Rezession. – Warum schreien
die Kinder?«
    »Keine Ahnung. Wer stürzt in einen Abgrund?«
    »Warum schreien sie, Jason? Kannst du nachsehen, was los ist?«
    [42]  »Weil sie bei dem Geheul ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Darum
schreien sie. Kinder schreien nun mal. Das tun sie öfter.
Sie bekommen nicht genug Liebe. – Wer stürzt in den Abgrund?«
    »Wir. Die USA .
Die Welt. Was kann ich daran ändern?«
    »An der Rezession?«
    Die Frage ihres Mannes kommt ihr absurd vor. Sie würde am liebsten loskichern,
ihren Mann zum Lachen bringen, doch das ist irgendwie fehl am Platz. Sie hat ihn
schon lange nicht mehr lachen hören. Seit mindestens einem Jahr.
    »An meiner Depression, der Babysitterin, meine ich. An Anca. Was kann
ich daran ändern?«
    »Darum ruf ich ja an«, sagt Leas Mann. »Ich brauch deine Hilfe. Ich
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