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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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fragt er noch einmal,
so wie andere fragen würden: »Wie war der Film?«
    [49]  Das Gespräch folgt nicht den eingespielten Ritualen, darum regt es
ihn auf – und erregt ihn. Gar nicht mal im sexuellen Sinn des Wortes. Als er vor
ein paar Jahren zwei unbekannte Briefe und eine Ansichtskarte von Friedrich von
Hayek entdeckte, hatte er sich genauso gefühlt. Leider war der Inhalt der Briefe
enttäuschend. Weltruhm würde der Fund ihm nicht bringen.
    »Nein. Ich bin nicht verliebt. Danach habe ich ihn mir nicht ausgesucht.«
    »Ausgesucht? Hast du ihn dir ausgesucht? Oh. Und warum bist du dann mit
ihm ins Bett gegangen? Wenn ich fragen darf? Wenn du nicht verliebt warst?«
    »Muss man unbedingt verliebt sein, um mit wem ins Bett zu gehen?«
    Er denkt nach. Hierzu hat er sich schon einmal geäußert. Er weiß nur
nicht mehr, was er gesagt hat. Hin und wieder spricht er gern über Sex. Darüber
sprechen ist manchmal erquicklicher als der Akt selbst, der eigentlich immer etwas
von einem Zweikampf behält, etwas Unvollkommenes, das im Grunde nur mit Hilfe der
Phantasie funktioniert.
    »Nein, das auch wieder nicht«, sagt er.
    »Es war eine Provokation.«
    »Eine was?«
    Roland klappt das Notebook zu. Normalerweise kann er beim Telefonieren
E-Mails oder die Zeitung lesen, heute gelingt ihm das nicht. Es ist auch schon spät.
Er ist müde. Er hat verschiedene Weinsorten durcheinandergetrunken, und danach noch
einen Grappa.
    Doch daran liegt es nicht. Es ist nicht der Grappa, es ist nicht der
Wein und auch nicht die Uhrzeit. Es sind die [50]  Bilder, die in ihm herumspuken,
seine Freundin nackt in den Armen eines anderen. Wenn er diese Bilder analysiert,
und analysieren ist sein Beruf, muss er zugeben, dass die Anwesenheit des anderen
ihn weniger stört als seine eigene Abwesenheit. Er war nicht dabei, das wurmt ihn.
Er hat etwas versäumt.
    »Eine Provokation.«
    »Ist Sex eine Provokation?«, fragt er.
    »Das kann sein, ich glaub schon. Manchmal ist er das.«
    Sie klingt fröhlich, auf jeden Fall nicht deprimiert. Hellwach klingt
sie auch.
    »Und wer musste unbedingt provoziert werden?«
    »Du.«
    »Ich? Oh. Das erklärt eine Menge.«
    Er war also doch dabei. Anwesend in Abwesenheit – obwohl das bemüht klingt,
die Analyse überzeugt ihn nicht, soweit man es überhaupt eine Analyse nennen kann.
Wo war er, als sie in den Armen des anderen Mannes lag?
    Er wartet, dass sie noch etwas sagt, doch das scheint es gewesen zu sein.
Offenbar ist das Gespräch für sie beendet.
    »Und jetzt?«, fragt Roland.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was soll ich jetzt sagen?«
    »Was willst du sagen?«, fragt Violet. »Mein Gott, fühlst du überhaupt
irgendetwas? Deine Freundin ist fremdgegangen, und du fragst: ›Was soll ich sagen?‹
Ist das Liebe? Ist das Leidenschaft? Ist dir alles egal?
Bin ich dir egal?«
    Jetzt klingt sie nicht mehr fröhlich. Sie schreit. Da ist eindeutig Verzweiflung
in ihrer Stimme.
    Vorgestern, was hat er vorgestern gemacht? Er war auf [51]  der Konferenz.
Es gab ein Diner. Er hatte sich an einen Tisch gesetzt, an dem noch zwei Plätze
frei waren, und hatte gefragt: »Sitzt hier schon jemand?«
    »Jetzt sitzen Sie hier«, hatte ein älterer Historiker jovial geantwortet
und seinen Monolog über den Molotov-Ribbentrop-Pakt wiederaufgenommen.
    Rechts von ihm saß Lea. Während des Monologs hatte sie ihm ein paarmal
ironische Blicke zugeworfen. Er war sich nicht sicher gewesen, worauf die Ironie
sich bezog – auf den Molotov-Ribbentrop-Pakt, auf ihn oder auf den Historiker.
    Mitten im Monolog waren sie aufgestanden, um frische Luft zu schnappen, und Lea hatte geflüstert:
»Ich halt’s nicht mehr aus!«
    »Ist das nicht ein bisschen taktlos?«, fragt Roland.
    »Was?«, fragt Violet zurück.
    »Dass du mich betrügst, während ich auf einer Konferenz über den Holocaust
bin, zeugt das nicht von ziemlich wenig Respekt?«
    »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
    »Eine ganze Menge, würde ich sagen. Ich bin auf einer Holocaustkonferenz,
du bist meine Freundin, und während ich mich hier abrackere, während ich Vorträge
über die Vernichtung der europäischen Juden höre, mich unter Leuten befinde, die sich mit nichts anderem beschäftigen, gehst du fremd. Hast du es ihm gesagt?«
    »Wem?«
    »Dem Mann. Deinem Mann. Dem Neuen.«
    »Was hätte ich ihm sagen sollen? Und er ist nicht ›mein Neuer‹!«
    [52]  »Als ihr miteinander im Bett wart.«
    »Ja?«
    »Hast du’s ihm gesagt? ›Mein Freund ist auf einer
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