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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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Holocaustkonferenz‹?«
    »Nein – natürlich hab ich ihm das nicht gesagt.«
    »Oder lagt ihr gar nicht im Bett? Habt ihr’s im Stehen getrieben?«
    »Ich werde diese Fragen nicht beantworten. Es wird mir echt zu blöd.
Es geht dich nichts an.«
    »Welches Bett habt ihr eigentlich benutzt?«
    »Meins.«
    »Dein Bett. Gab es keine anderen Betten? Konntet ihr nicht zu ihm? Oder
hat er kein Zuhause? Ist er obdachlos?«
    »Nein, er ist nicht obdachlos.« Ihre Stimme klingt genervt. Wie wenn
er Witze macht, die er sich bei anderen nicht erlauben würde, nur bei ihr.
    »Habt ihr ein Kondom benutzt?«
    »Ja, natürlich.«
    »So natürlich ist das gar nicht. Hattest du denn Kondome im Haus?«
    »Ich hatte noch ein paar alte herumliegen.«
    »Aha. Weiß er, dass du einen Freund hast?«
    »Ja, das hab ich ihm gesagt.«
    »Und was hat er geantwortet?«
    »›Das hab ich mir schon gedacht.‹«
    »Mehr nicht?«
    »›Wirst du’s ihm sagen?‹«, fügt Violet noch hinzu.
    »Wem?«
    »Das hat er gefragt. Das waren seine Worte. ›Wirst du’s [53]  ihm sagen?‹
Bevor er wegging. Er zog seine Jacke an, und auf einmal fragte er: ›Wirst du’s ihm
sagen?‹«
    »Und was hast du geantwortet?«
    »Ja.«
    Ihm, das ist er, Roland Oberstein. Ihm soll
etwas gesagt werden.
    Wenn ein Kunde die richtige Wahl treffen will,
braucht er die richtigen Informationen. Das Problem ist, dass Produzent und Verkäufer
oft über einen Wissensvorsprung verfügen. Der Kunde hat
ein Informationsdefizit, das er versuchen muss auszugleichen.
So zumindest in der Theorie.
    Der Kunde Oberstein ist gerade dabei, diskret seine Wissenslücke zu schließen.
    »Und was hat er dann gesagt?«, fragt Roland.
    »›Ich würd es nicht wissen wollen.‹«
    »Das hat er gesagt? ›Ich würd es nicht wissen wollen‹?«
    »Ja, genau so. Das waren seine Worte.«
    Warum will man etwas nicht wissen? Will er das hier wissen? Und wann
weiß man genug?
    Neben dem Fernseher hängt ein Spiegel. Oberstein begreift nicht, warum Leute so ein Ding über einem Schreibtisch aufhängen.
    »Na, dann hätten wir das ja besprochen«, sagt er, während er sein Bild
im Spiegel kontrolliert. Er weiß nicht, ob er gelassen wirkt oder ob man ihm die
Unruhe ansieht. An manchen Tagen findet er sich recht
attraktiv, was an der merkwürdigen Zufriedenheit liegen muss, die er dann ausstrahlt.
Trotzdem würde er sich nicht als eitel bezeichnen. Ganz und gar nicht. Gute Tage
sind selten. Selbst bei [54]  jemandem, der weiß, dass man nichts wollen darf, was
man nicht bekommen kann.
    »Ist das alles?«, fragt sie. »Hast du nicht
mehr zu sagen?«
    »Mehr zu sagen? Nein, ich meine, es ist eine Episode. Eine spannende
Geschichte. So sehe ich das.«
    »Spannend?«
    »Ja.«
    »Ich bin mit einem anderen Mann ins Bett gegangen, und du findest das eine spannende Geschichte?«
    Wie er jetzt dasitzt, vor seinem Notebook, das Mobiltelefon in der Hand,
sieht er sich im Spiegel. Violets Meinung zufolge schaut er zu oft dorthinein. Sie hat ihm schon einmal Eitelkeit vorgeworfen,
doch wer ist nicht eitel? In den Spiegel schauen kann auch ein Zeichen von Unsicherheit
sein. Er schaut hinein, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersehen hat, keine
Reste Rasierschaum, keine Essenskrümel, keinen Kulifleck.
    Spannung ist, wenn man nicht weiß, wie etwas ausgeht, aber auch der ungünstigste
Ausgang noch erträglich erscheint.
    Eine tödliche Krankheit ist nicht spannend, weil man das Ende schon kennt.
Hoffnung wider besseres Wissen ist tragisch, aber nicht
spannend.
    »Weinst du?«, fragt er.
    »Nein – ja, ich weine ein bisschen.«
    »Das ist verkehrte Welt«, sagt Roland. »Eigentlich sollte ich weinen.«
    Verzweiflung kostet Zeit, und wenn er etwas nicht hat, ist es das: Zeit.
Er müsste in seinem Terminkalender Platz [55]  dafür frei machen. Vielleicht könnte
er im Winter ein Wochenende dafür reservieren.
    »Warum weinst du dann nicht?«
    Er denkt nach. Die moralische Überlegenheit seiner Position gefällt ihm.
    Aber er kann nicht weinen. Es geht nicht.
    Bei Filmen weint er hin und wieder. Ganz selten.
    »Ich weiß nicht«, sagt er. »Nochmals, ich betrachte es als eine aufregende
Episode. Den anderen Mann. Dich. Euch. Nackt im Bett. Das Kondom. Wie Porno, nur
anders. Darum weine ich nicht.«
    »Das ist absurd.«
    »Was ist absurd?«
    »Wie du reagierst.«
    Bevor er sich ins Bett legt, wird er noch einmal duschen. Lang und heiß
duschen. Und dann wird er schlafen. Morgen fliegt er
nach Hause. Er
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