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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied
Autoren: Britta Keil
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kann? Zu viele für einen einzigen Kopf. Sie haben mir meine Gitarre weggenommen. Sie ist ein gefährlicher Gegenstand. Ich könnte jemanden damit erschlagen. Am besten mich selbst. Sie wollen mich zurückschicken, in meine Heimat. Meine Heimat hat sechs Saiten und steht im Keller dieser Anstalt. Es ist schrecklich. Kannst du bitte kommen? Ic h …« Es tutete.

Wenn ich jemals…
    Wenn ich jemals eine Kolumne über die S-Bahn schreibe, wird sie mit dieser Fahrt beginnen. Das dicke Kind mit Gipsbein, das seinen Malblock malträtiert, wird nicht darin vorkommen, auch nicht der Typ mit Bierfahne, der seinem Kumpel erzählt, dass er seiner Alten das Haushaltsgeld kürzt, wenn sie es noch mal hinter seinem Rücken mit dem Nachbarn treibt, und auch nicht das hochaufgeschossene Mädchen mit der winzigen Handtasche, das bestimmt sehr vornehm Fisch essen kann.
    Es wird um den freien Platz neben mir gehen, auf dem Mila jetzt sitzen könnte, wenn unsere Geschichte anders verlaufen wäre.
    In Grünau steige ich aus. Der Tag ist viel zu schön für das, was ich vorhabe.
    In der Bahnhofshalle verkauft ein Mann Kirschen, »sehr süß und knackig«, steht auf dem Schild. Bis eben wusste ich nicht, was ich Mila außer dem schmalen Rilke-Bändchen mitbringen sollte, jetzt weiß ich es und kaufe ein Pfund. An Tagen wie diesen tut es gut, an Kirschen zu denken. Findest du nicht?
    Mit der Straßenbahn fahre ich weiter Richtung Köpenick. Die Stationen tragen absurde Namen. Wassersportallee, Regattastraße, Betonwerk. In der Rosenstraße steige ich aus.
    Ich kann das Gebäude schon an der Haltestelle sehen: Die hellen, hohen Betonwände mit den kleinen vergitterten Fenstern ragen in den blitzeblauen Himmel auf, die meterhohen Außenmauern sind mit riesigen Schlaufen aus Stacheldraht gesichert, davor steht ein weiterer Metallzaun. Da drin soll Mila sein? Das ist vollkommen unmöglich!
    Ich kenne Gefängnisse nur aus dem Fernsehen. Aber das hier ist was ganz anderes. Einen Bildschirm zwischen dem eigenen Sofa und der Welt zu wissen, schafft behagliche Distanz. Hier ist nichts mehr behaglich, hier ist alles aus Stein und Metall und ernst und videoüberwacht.
    Ich überquere die Straße und die Mauern wachsen mit jedem meiner Schritte oder ich schrumpfe, keine Ahnung.
    Ich gehe langsam zu dem großen Tor am linken Ende der gigantischen Anlage. Es besteht aus dicken grünen Metallstäben und ist an der Oberseite mit Zacken bewehrt. In das große Tor ist eine Tür eingelassen. »Besuchereingang« steht auf dem Schild darüber. Ich spähe durch die Gitterstäbe. Dahinter liegt ein langer, breiter Weg. Hundert Meter lang, zweihundert Meter, ich kann es nicht sagen. Zu beiden Seiten ragen Mauern auf, was für ein entmutigender Anblick. Der Weg führt zu einem flachen Gebäude. Und da soll ich durch? Ich fühle, wie mein Herz pulsiert, bis in den Hals hinauf kann ich es spüren.
    Neben der Tür ist eine Klingel angebracht, die Besucherklingel. Ich starre das weiße Plastikgehäuse ungläubig an, ich kann mir einfach nicht vorstellen, da draufzudrücken.
    Am liebsten würde ich auf der Stelle umkehren, zurück in die Straßenbahn zu den schnatternden Omas in geblümten Blüschen steigen und dann an einem schöneren Ort wieder aussteigen. Plötzlich weiß ich wieder, warum ich erst ein paar Tage verstreichen ließ, um hierherzukommen.
    Ich drücke auf die Klingel und dann öffnet sich das Tor. Ich gehe hinein und laufe langsam geradeaus. Ich drehe mich nicht um, ich will nicht sehen, wie sich das Tor hinter mir schließt.
    Die Mauern sind beklemmend, ich bin winzig, ich schaue hinauf in den blauen Sommer, den sie nicht wegsperren können, ein Spatz turnt im Stacheldraht. Es dauert ewig, bis ich bei dem zweistöckigen Gebäude am anderen Ende des Weges angekommen bin. Ich gehe die Stufen hinauf und stehe vor einer Glastür. Noch eine Klingel. Ich drücke drauf, ich habe ja jetzt Übung.
    Ein Polizeibeamter öffnet mir und ich sage, dass ich Mila besuchen möchte, und ich sage auch, dass sie meine Freundin sei. Ich zeige ihm meinen Ausweis und dann führt der Beamte ein Telefonat. Kurz darauf kommt er wieder hinter seinem verglasten Schreibtisch hervor und sagt mir, dass Mila nicht mehr da sei. Sie sei vor zwei Tagen in ihre Heimat ausgereist.
    Ich würde dem Mann in Uniform gern erklären, wie sich das mit Mila und ihrer Heimat verhält, aber ich habe alle Worte vergessen.
    Die Gittertür öffnet sich leise und ich gehe hinaus. Ich drehe mich nicht
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