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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied
Autoren: Britta Keil
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aufwachte, war der Platz neben mir noch frei, das Kopfkissen glatt und unbenutzt. Jeder, der schon mal verlassen wurde, weiß, wie sich der Anblick eines solchen Kissens anfühlt.
    Mila und ich besprachen nur noch das Nötigste. Manchmal brauchte sie mein Fahrrad oder sie drängte mich zwischen Tür und Angel dazu, meinen Schwur zu erneuern, Theo nichts zu verraten. Ich gab ihr mein Versprechen, ich konnte nicht anders.
    Theo und ich hatten schon vor Wochen aufgehört, ganze Sätze miteinander zu sprechen. Inzwischen kommunizierten wir wieder über Zettel wie am Anfang. Wenn wir uns dann doch mal in der Wohnung über den Weg liefen, kamen wir selten über ein Hallo hinaus. Und sobald Mila auftrat, nahm Theos Gesicht einen debilen Ausdruck an oder er bekam alberne rote Bäckchen, die nicht zu seinem Dreitagebart passten. Und eines Tages waren Milas Sachen aus meinem Zimmer verschwunden.
    Es war mein Fehler, dass es überhaupt so weit gekommen war. Dass ich mich in meinen eigenen vier Wänden wie ein Störenfried fühlte, dass Mila jetzt bei Theo schlief und mich nicht mehr beachtete, mich offensichtlich nicht einmal mehr mochte, und dass ich am Ende die Dinge dachte, die ich dachte, und für die ich mich heute so sehr schäme, dass ich kaum Worte dafür finde.
    Es war an einem Sonntag, an dem ich ins Delirium musste und meinen Fahrradschlüssel nicht finden konnte. Ich stellte hektisch mein halbes Zimmer auf den Kopf, fand alles Mögliche, sogar Druckerpatronen, nur keinen Schlüssel. Ich hatte noch weniger als eine Viertelstunde, bis meine Schicht begann, und auf Stress mit Achim hatte ich gerade absolut keinen Bock.
    Dann fiel mir ein, dass Mila mein Fahrrad zuletzt gehabt hatte, und ich bekam Panik. Ich riss mein Fenster auf und beugte mich hinau s – mein Rad stand noch im Hof. Mila und Theo mussten die S-Bahn genommen haben, um an den See zu fahren. An den See , wiederholte ich in Gedanken spöttisch. Wahrscheinlich schipperte Theo seine Mila gerade in einem gelben Ruderboot übers Wasser, während sie ihre Blässe unter einem großen Strohhut verbarg und den Enten lachend Brotkrumen zuwarf.
    Ich knallte mein Fenster zu und rannte in Theos Zimmer. Mir fiel auf, dass ich dieses Zimmer schon seit Ewigkeiten nicht mehr betreten hatte. Es sah eigentlich aus wie immer, aber es roch nicht mehr wie früher und auf dem Boden und auf dem Ledersessel lagen Milas Sachen verstreut. Werner lehnte an der Wand neben dem Fenster, der offene Koffer lag in der Ecke und sein grüner Schlund gähnte mir entgegen.
    Ich hatte nicht die geringste Lust, in Milas Sachen rumzuwühlen, aber auf einen schlecht gelaunten Achim hatte ich noch weniger Lust und darum musste ich jetzt schleunigst ins Delirium . Ich kniete mich neben Milas Rucksack und spähte vorsichtig in die große Öffnung. Ich sah Klamotten und ein Handtuch. Ich öffnete eines der Seitenfächer, darin fand ich einen kaputten Karabinerhaken und ein paar Münzen. Ich probierte es auf der anderen Seite und fand meinen Schlüsse l – und einen Brief. Ich wusste, dass ich den Reißverschluss einfach wieder hätte zuziehen sollten, aber meine Neugier war zu groß. Ich stopfte mir den Schlüssel in die Hosentasche und zog den Brief heraus.
    Er war von der Ausländerbehörde und er war an Mila adressiert. Doch unter ihrem Namen stand noch ein anderer Nam e – Linus Helle r – und eine Berliner Adresse, die ich nicht kannte. Ich schaute auf den verwischten Poststempel. Der Brief war vom März, wenn ich es richtig erkennen konnte.
    Keine Ahnung, wer Linus Heller war, Mila hatte ihn mit keinem Wort erwähnt, aber vermutlich hatte sie bei ihm gewohnt, nachdem sie von den faulen Hippies die Nase voll gehabt hatte.
    Mit Herzklopfen zog ich das Schreiben aus dem Kuvert. Das hätte ich nicht tun sollen. Ein Albtraum aus Buchstaben überrollte mich.
    »Sie wurden am 4 . März im Rahmen einer Polizeikontrolle in Berlin aufgegriffen und halten sich seither ohne Pass, Passersatz oder Aufenthaltstitel im Bundesgebiet au f …«, las ich heiser und meine Finger begannen zu zittern. »Hinsichtlich Ihres weiteren Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland ergeht folgender Bescheid: Sie werden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlasse n …« Meine Augen huschten zurück zum Datum auf dem Briefkopf und ein kalter Stein fiel mir aufs Herz. Der Brief war über drei Monate alt! Seit Wochen steckte er in Milas Rucksack!
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