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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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bewegt sich wie eine alte Frau im Körper eines jungen Mädchens. Als meine Mutter kurz darauf mit dem Nebel verschmilzt, verwandelt sie sich in ein Porzellangespenst. Seit jenem bizarren, wunderbaren Tag habe ich sie nicht mehr wiedergesehen, und ich lebe seitdem bei Doktor Madeleine.

2
    ls ich älter werde, stelle ich immer mehr Fragen. Mein Wunsch, die Stadt am Fuß des Bergs zu erkunden, wird zur Obsession. Nachts klettere ich oft auf das Dach unseres Hauses, sitze reglos da und lausche dem fernen Rauschen. Mondlicht fällt auf die verwinkelten Gassen unter mir und umgibt sie mit einem zuckrigen Heiligenschein, in den ich am liebsten hineinbeißen würde.
    Madeleine sagt aber immer nur, ich würde die harte Wirklichkeit der Stadt schon früh genug kennenlernen.
    »Hab etwas Geduld! Jeder deiner Herzschläge ist ein kleines Wunder. Du weißt, meine Konstruktion ist nicht die stabilste. Aber je älter du wirst, desto weniger wirst du sie brauchen.«
    »Wie oft muss sich mein Stundenzeiger bis dahin noch drehen?«
    »Ziemlich oft. Bevor ich dich in die Welt entlasse, muss dein Herz noch viel stärker werden.«
    Zugegebenermaßen macht mir meine Uhr oft Ärger. Sie ist mein empfindlichster Körperteil, und niemand außer Madeleine darf sie anfassen. Doktor Madeleine zieht die Uhr jeden Morgen mit einem winzigen Schlüssel auf. Wenn ich mich erkälte, tun mir beim Husten die Zahnräder weh, es fühlt sich an, als würden sie meine Haut von innen durchbohren. Ich hasse das Geräusch von zerspringendem Geschirr in meiner Brust.
    Am meisten ärgert mich aber meine ganz persönliche Zeitverschiebung. Abends im Bett hält mich das Ticken, das durch meinen Körper hallt, vom Schlafen ab. Deshalb nicke ich nachmittags oft im Stehen ein und bin dann mitten in der Nacht hellwach. Aber ich bin weder ein Hamster noch ein Vampir, ich bin einfach nur ein nachtaktiver Junge.
    Gut, es hat auch seine Vorteile, unter einer schweren Krankheit zu leiden. Ich liebe es beispielsweise, wenn Madeleine sich im Nachthemd wie ein Gespenst mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand in mein Zimmer stiehlt und mir ein gruseliges Schlaflied singt. Manchmal summt sie mir bis zum Morgengrauen etwas vor und streicht mir dabei sanft über das Uhrengehäuse. In diesen süßen Augenblicken fühle ich mich ganz und gar geborgen.
    »Love is dangerous for your tiny heart«, flüstert sie dann immer wieder, als wäre das ein uralter Zauberspruch, der den Schlaf herbeilocken soll.
    Ich liebe es, ihr zuzuhören und dabei in den sternhagelvollen Himmel zu sehen, auch wenn ich es etwas merkwürdig finde, wie sie immer wieder »love is dangerous for your tiny heart« flüstert.
    An meinem zehnten Geburtstag erklärt sich Doktor Madeleine endlich dazu bereit, mich mit in die Stadt zu nehmen. Ich habe so lange darum gebettelt … Trotzdem kann sie es sich nicht verkneifen, den Aufbruch bis zuletzt hinauszuzögern: Sie läuft von einem Zimmer ins nächste und räumt wahllos Dinge hin und her. Bis sie sagt: »Und jetzt ab in die Stadt, wir haben einen Geburtstag zu feiern!«
    Ich fühle mich wie Christoph Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas. Das Gassengewirr vor mir zieht mich an wie ein Magnet. Ich beginne zu rennen! Die vorbeisausenden Häuserfronten neigen sich einander zu, der Ausschnitt des Himmels über mir wird immer schmaler. Es kommt mir vor, als müsste man nur einmal kräftig pusten, und die aneinandergereihten Häuser würden umstürzen wie Dominosteine. Die Bäume und Büsche haben wir auf dem Berg zurückgelassen, hier schießen dafür überall Menschen aus dem Boden. Frauen platzen auf wie Knospen, Klatschmohnhüte, Klatschmohnkleider! Manche wachsen aus den Fenstern und beugen sich über die Geländer der Balkone. Eine bunte Menschenflut drängt zum Markt und ergießt sich farbenfroh auf den Salisbury Place.
    Ich stürze mich ins Getümmel. Hufe klappern über Pflastersteine, Stimmengewirr wühlt mich auf. Das und der Glockenturm, der mich mit einem gewaltigen Schlag seines Herzens begrüßt, das zehnmal größer ist als meins. Ich schaue zu ihm auf und wende mich dann zu Madeleine um, die ganz aus der Puste ist.
    »Ist das mein Vater?«
    »Nein, mein Junge. Die Turmuhr schlägt jeden Tag um ein Uhr nachmittags ein einziges Mal.«
    Wir überqueren den Platz. Als wir in eine Gasse einbiegen, dringt eine fröhlich-melancholische Melodie an mein Ohr, eine Musik wie ein goldener Funkenregen. Die Musik trifft mich mitten ins Herz. In mir herrschen auf
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