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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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Die Seifenkiste, in der ich immer den Hang meiner Neubausiedlung hinunterraste, zu klapprig. So kam ich auf die Idee mit dem rollenden Sarg.
    Die nächsten Monate verbrachte ich mit der Konstruktion meines Gefährts. Hinten der Sarg aus lackiertem Sperrholz, vorne ein weicher Sattel und ein breiter Lenker. Felgen und Reifen von einem BMX -Rad, Ritzel, Kette und Pedale von einem Rennrad. Innen im Sarg gemütliche Kissen und ein kleines Regal, um ein Buch und eine Packung Kekse unterzubringen und um mir den Kopf zu stoßen. Im Deckel Luftlöcher wie in einer Transportbox für Kleintiere. Nach ein paar entmutigenden Probefahrten war mein Vehikel im Frühjahr fertig, auf Hochglanz poliert und mit Pixies -Aufklebern und handgemalten Wolken verziert.
    Dann kam der große Tag. Ich trat in die Pedale. Als ich das Ortsausgangsschild passierte, lief mir ein Schauer die Wirbelsäule entlang. Zum Schlafen konnte ich überall haltmachen, selbst auf dem Friedhof.
    Mein Sarg auf Rädern entpuppte sich als Attraktion. Selbst Alte, die auf ihren Bänken festgewachsen waren, warfen mir neugierige Blicke zu. Meist parkte ich unter einer Platane, legte mich in den Sarg und spielte eine Weile auf dem Akkordeon. Wenn die Luft vor Anspannung vibrierte und ich spürte, dass sich genügend Zuschauer angesammelt hatten, sprang ich Konfetti spuckend hervor. Ich gab den sterbenden Weihnachtsmann und steppte zu Johnny-Cash-Songs * . Dann kletterte ich auf die erstbeste Erhebung: einen Baum, eine Motorhaube, ein Haltestellenhäuschen. Ich entfaltete meine Pappflügel und tat so, als könnte ich fliegen. Ich fiel auf die Nase, tat mir mal mehr, mal weniger weh und legte mich am Ende der Show wieder in meinen Rollsarg. Bei meinen Auftritten trug ich stets eine Zorromaske, die ich aus einer Zeitschrift hatte. Sie half mir, meine Schüchternheit zu überwinden, und verlieh mir eine geheimnisvolle Aura. Selbst beim Küssen behielt ich sie auf.
    Ich zog von Dorf zu Dorf, und irgendwann eilte mir mein Ruf voraus. Die Menschenmenge schwoll an, man brachte mir Essen, Verbandszeug, sogar Bücher. Eins hatte ich mir vorgenommen: Ich würde nie länger als vierundzwanzig Stunden an einem Ort bleiben. Ich gab meine Aufführung, übernachtete in der Nähe und fuhr gleich am nächsten Morgen weiter. Manchmal zwangen mich die Erschöpfung oder eine Verletzung, ein paar Stunden länger im Sarg liegen zu bleiben, aber meine Rastlosigkeit trieb mich weiter. Die Freiheit, die durch meine Adern pulsierte, berauschte mich und machte mich glücklich. Mit jedem Tag schien mein Geist jünger zu werden. Mein Körper hingegen alterte. Rasend schnell. Um mein Publikum zu fesseln, wagte ich immer riskantere Stunts. Auch wenn ein Teil von mir ahnte, wie absurd das war, machte ich mein Seelenheil von dem Applaus Fremder abhängig. Manchmal wiesen mich Zuschauer, die es gut mit mir meinten, vorsichtig darauf hin, dass ich diesen Lebenswandel nicht lange durchhalten würde. Die Liste meiner Knochenbrüche wurde von Tag zu Nacht länger, und mein Rücken ächzte und knarrte wie eine alte Diele.
    Aber ich bekam einfach nicht genug von den Ab- und Umwegen, den magnetischen Feldern und Wiesen, den einsamen Landschaften, die mir netterweise immer einen Baum zum Dagegenfahren hinstellten. Mein Gehirn speicherte leuchtende Sonnenuntergänge und Füchse, die über die Straße huschten. Mein Leben war eine Überraschungsmaschine. Mal klebten Schnecken an meinen Schuhen, mal verkroch sich ein Igel in meinem Bett. Einmal wollte ein Gothic -Mädchen in meinem Sarg übernachten. Leider sei er nicht groß genug für zwei, sagte ich, woraufhin sie erwiderte, sie wolle ja auch alleine darin schlafen.
    Eines Morgens fand ich zu meinen Füßen ein Nest mit roten Kanarienküken. Jemand musste es dort abgelegt haben, während ich schlief. Einige waren in der Nacht gestorben, die sieben Überlebenden nahm ich unter meine Fittiche. Ich war wohl das Erste, was sie im Leben sahen, ich wurde sozusagen ihr Vater. Ich taufte sie alle auf den Namen Michel Platini. ** Es kann nie schaden, mehrere Platinis zu haben, am besten eine ganze Mannschaft. Bald traten die Vögel mit mir zusammen auf. Ich hatte immer ein paar von ihnen im Ärmel. Sie verliehen meinen Bewegungen Schwung und ließen sich nach spektakulären Stürzen auf meinen Schultern nieder. Ich beobachtete, wie sie am Himmel ihre Bahnen zogen. Von Tag zu Tag wurde meine Sehnsucht nach den Wolken größer.
    Auf meiner Odyssee in dem Sarg entdeckte
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