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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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verschanzt sich hinter ihrem Rücken. Flankiert wird Frau Doktor von zwei Pflegern im blauen Kittel. Die beiden kommen näher, einer drückt mich aufs Bett, während der andere mir mit einem Ruck die Flügel abreißt. Die Heftpflaster rupfen mir Haare aus, und ich werde wütend. Ihr abschätziger Blick und die Art und Weise, wie sie meine Flügel zerlegen, lösen in mir ein Erdbeben aus. Plötzlich fühle ich mich quicklebendig. Ich will mit der Faust ein Loch in die Wand schlagen, ein Fenster zur Welt, damit ich über die Wolken tanzen und dem Horizont in die Augen sehen kann.
    »Kommen Sie, Mister McMurphy, beruhigen Sie sich«, sagt meine Ärztin sanft, aber bestimmt.
    »Ich heiße Cloudman!«
    »Sie dürfen Ihren Tropf nicht mehr abhängen. Die Infusion hält Sie am Leben. Ohne Medikamente kann sich Ihr Blut nicht regenerieren.«
    Sie wendet sich zu ihren Schergen um und bedeutet ihnen, das Zimmer zu verlassen.
    »Tom, ich will Ihnen doch nur helfen. Warum sind Sie so unvernünftig?«
    »Ich will die wenige Zeit, die mir bleibt, nicht im Bett verschwenden.«
    »Hören Sie mir gut zu, Tom Cloudman. Ich bin Onkologin, ich kenne mich aus. Ich konnte schon Patienten, denen es wesentlich schlechter ging als Ihnen, nach einer Weile entlassen, weil der Krebs verschwunden war. Sie haben eine bessere Chance zu überleben, als Sie denken. Aber ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mich nicht lassen.«
    Ihre geballten Fäuste beulen den Kittel aus.
    »Ich verlasse mich auf Sie«, sagt sie im Hinausgehen.

as Gemüse wird immer mächtiger. Es hat den Zugangscode zu meiner Atmung geknackt. Bei der kleinsten körperlichen Anstrengung schnaufe ich wie ein alter Mann. Ich verliere rapide an Gewicht, habe dabei aber das Gefühl, immer dicker zu werden. Die Zeit vergeht zugleich langsamer und schneller, ich komme da nicht mehr mit. Nur die Beruhigungsmittel weisen mir manchmal einen Ausweg aus dem Labyrinth der Schlaflosigkeit.
    Beim Aufwachen fällt mein Blick auf einen roten Fleck auf meinem Nachttisch. Inmitten all des Krankenhausweiß wirkt er wie eine Rose im ewigen Eis. Es ist ein Briefumschlag. Ungeduldig reiße ich ihn auf, um an den Inhalt zu kommen – der nun unglücklicherweise zerrissen ist. Es ist ein Foto. Als ich es wieder zusammengesetzt habe, zeigt es einen Mann mit Vogelkopf und Flügeln am Rücken. Die Federn, die sich von seinem schwarzen Smoking abheben, sind rot wie der Briefumschlag. Um den Mann herum schweben wattige Wolken. Wer kann mir das geschickt haben?
    Beim Anblick des Fotos kribbelt es mir in den Fingerspitzen. Kurz entschlossen gehe ich zu dem Mülleimer, in dem die traurigen Überreste meiner Flügel gelandet sind, und ziehe sie heraus. Sie sehen aus wie nach einem missglückten Stunt, denke ich. Eigentlich gefallen sie mir so viel besser als vorher.
    Der Tropf stört mich bei meinen Beutezügen, aber ich nehme ihn trotzdem mit. Ständig verheddere ich mich in den Schläuchen oder stoße mit dem Ständer gegen Türrahmen. Oft wecke ich meine Opfer dadurch auf. Sie schreien, machen Licht, klingeln nach der Nachtschwester. Bei manchen läuft es aber auch besser, mit den beiden Riesen habe ich mich mittlerweile angefreundet. Im Hellen sind sie so blass, dass man sie mit den Bettlaken verwechseln könnte.
    »Was machst du da, du komischer Vogel?«, brummte der Dickere der beiden eines Nachts, als ich verzweifelt versuchte, unsere Infusionsschläuche zu entwirren.
    Ich entschuldigte mich für den Radau und schilderte den Grund meines nächtlichen Besuchs. Er murmelte etwas in seinen müden Weihnachtsmannbart und überließ mir das Innenleben seines Kopfkissens. Seitdem legen mir die beiden jeden Abend ein Häuflein Federn am Fußende ihres Bettes bereit, damit ich ihr Schnarchkonzert nicht störe.
    Nur wenn ich das Mondkind besuche, hänge ich den Tropf ab. Für Victor werde ich zum Zauberkünstler und denke mir Abenteuergeschichten aus, um ihn zum Träumen zu bringen.
    Gestern Abend habe ich ihm von meinem Plan erzählt, die Kopfkissen in Schweizer Luxushotels zu plündern. Heute hat er gesagt, er wolle sich tot stellen und mit mir in meinem rollenden Sarg aus dem Krankenhaus fliehen. Wir würden eine Meute Schlittenhunde davorspannen, damit wir schneller vorankämen, und sämtliche Schätze der Schweiz wären unser!

m Frühling sterben zu lernen hat seine Vor- und Nachteile. Auf den kurzen Spaziergängen im Park, die man mir großzügigerweise gewährt, fährt mir ein warmer Wind in den Schlafanzug
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