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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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einen Schlag zugleich Regen und Sonnenschein.
    »Das ist eine Drehorgel. Hübsch, nicht?«, sagt Madeleine. »Sie funktioniert so ähnlich wie dein Herz, wahrscheinlich gefällt dir ihr Klang deshalb so gut. Im Innern des Instruments befindet sich ein Mechanismus, der von Gefühlen angetrieben wird.«
    Noch nie in meinem Leben habe ich eine so schöne Melodie gehört, aber das ist nicht die einzige Überraschung, die mich erwartet: Ein kleines Mädchen, das mich an ein blühendes Bäumchen erinnert, stellt sich vor die Drehorgel und beginnt zu singen. Ihre Stimme klingt wie das Trällern einer Nachtigall, nur mit Worten.
    Ihre schlanken Arme sind feine Äste, und ihre schwarzen Locken umtanzen ihr Gesicht wie feurig lodernde Schatten. Ihre perfekte Nase ist so klein, dass ich mich frage, wie sie damit atmen kann – vielleicht ist sie nur Dekoration. Jetzt beginnt sie sich auf ihren Stöckelschuhen zu drehen, und ihr Tanz erinnert mich an einen leicht im Wind schwankenden Vogel. Ihre Augen sind so groß, dass man wohl alle Zeit der Welt bräuchte, um auf ihren tiefschwarzen Grund zu gelangen. Da flammt in ihnen plötzlich wilde Entschlossenheit auf, sie reißt den Kopf hoch wie die Miniaturausgabe einer Flamencotänzerin. Ihre Brüste sind zwei kleine Baisers, so wohlgeformt, dass es unhöflich wäre, sie nicht auf der Stelle zu vernaschen. Hitze durchströmt meinen Körper. Die kleine Sängerin schüchtert mich ein, aber ich brenne darauf, zu ihr zu rennen. Der Geruch nach Zuckerwatte und Staub trocknet mir die Kehle aus. Ich weiß nicht, was dieses rosarote Karussell zum Rotieren bringt, aber ich muss mitfahren. Ich muss zu ihr.
    Plötzlich beginne auch ich zu singen, wie in einem Musical. Doktor Madeleine wirft mir einen Finger-weg-vom-Herd-Blick zu.
    In dem Moment, als unsere Stimmen miteinander verschmelzen, bleibt der Absatz ihres linken Stöckelschuhs im Kopfsteinpflaster stecken. Sie taumelt wie ein auslaufender Kreisel und fällt dann bäuchlings auf das vereiste Pflaster. Ihr Sturz hat etwas Slapstickhaftes. Doch selbst am Boden liegend und mit verrenkten Gliedern ist sie entzückend. Sie sieht aus wie ein abgestürztes Vögelchen, dem Blut über das Federkleid rinnt. Ihre Mutter nimmt sie bei der Hand, fester, als Eltern es für gewöhnlich tun. Man könnte meinen, sie fange die kleine Sängerin wieder ein.
    Ich versuche etwas zu sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Doktor Madeleine und die Mutter wechseln ein paar Worte, wie Hundebesitzer, denen es mit knapper Not gelungen ist, ihre ineinander verbissenen Lieblinge zu trennen.
    Mein Herz schlägt jetzt immer schneller, ich bekomme kaum noch Luft. Mir ist, als schwelle meine Uhr an und wandere hoch in den Hals. Ist die kleine Sängerin eben erst geschlüpft? Ist sie aus Zucker? Kann man sie essen? Was ist hier eigentlich los?
    Ich versuche ihr in die Augen zu sehen, aber ihr sinnlicher Mund hat meinen Blick gekidnappt. Mir war bisher nicht klar, wie viel Zeit man darauf verwenden kann, einen Mund anzustarren.
    Plötzlich beginnt meine Uhr laut zu schlagen und mein Kuckuck wie wild zu rufen, schlimmer als bei meinen stärksten Hustenanfällen. Meine Zahnräder drehen sich immer schneller, so als hätte ich einen Hubschrauber verschluckt. Der Lärm zerreißt mir fast das Trommelfell, und ich halte mir die Ohren zu, was alles nur noch schlimmer macht. Meine Zeiger drohen mir den Hals aufzuschlitzen. Doktor Madeleine dreht sich erschrocken zu mir um und macht beschwichtigende Gesten, wie eine Vogelhändlerin, die einen panisch im Käfig umherflatternden Kanarienvogel packen will. Ich verglühe und schließe die Augen.
    Ich möchte ein majestätischer Adler sein oder eine coole Silbermöwe, kein gestresster Kanarienvogel mit nervösen Zuckungen. Ich hoffe, dass die kleine Sängerin mich nicht sieht. Das Ticken hallt in meinen Knochen wider, ich reiße die Augen auf und sehe in den strahlend blauen Himmel. Madeleine packt mich mit eisernem Griff am Kragen und stellt mich wieder auf meine zittrigen Kanarienvogelbeinchen. Dann zieht sie mich fort.
    »Wir gehen nach Hause, und zwar sofort! Du hast allen einen Riesenschreck eingejagt! Einen Riesenschreck!«
    Sie klingt zugleich wütend und besorgt. Ich schäme mich in Grund und Boden. Vor mir sehe ich immer noch dieses Bäumchen von einem Mädchen, dieses Feuervögelchen. Unabsichtlich habe ich mein Herz an sie verloren. Unabsichtlich absichtlich. In meiner Uhr ist der heißeste Tag aller
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