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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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Brüste zu setzen. Wenn er in meinem Ausschnitt zu zwitschern beginnt, werde ich eben Playback pfeifen müssen. Aber was mache ich, wenn er vor versammelter Mannschaft davonfliegt und ich ihn nicht einfangen kann? Wenn er in Panik gerät und gegen eins dieser blöden Fenster flattert, die sich nicht öffnen lassen?
    Ich knie mich hin, spreize die Hände und halte sie Tom Cloudman hin. Er klettert unbeholfen auf einen Finger. Sein fröhliches Zwitschern durchbricht die morgendliche Stille. Ich antworte ihm mit einem Trällern und lasse mir nichts anmerken. Er beginnt laut zu gurren. Ich nähere mich der Schwelle zum Himmel. Bei jedem Schritt schlägt mein Herz schneller. Seins vibriert. Wir zittern beide. Stille legt sich über die Voliere, selbst der Wind verstummt. Ich singe leise und stemme die Füße in den Boden. Meine Hände öffnen sich, bis sie eine fast ebene Fläche bilden. Ich spanne die Unterarme an und konzentriere mich, um nicht allzu sehr zu zittern. Meine Daumen wandern unwillkürlich nach oben, um Tom zu streicheln. Seine Füße kitzeln mich, als er über meine Handflächen tippelt. Ich pfeife weiter. Er hüpft auf meine rechte Hand und wendet sich mir zu. Seine Augen funkeln wie zu Tom Cloudmans besten Zeiten. Plötzlich kommt mir ein Gedanke: Ich will ihn fotografieren. So kann ich ihn festhalten, ohne ihn einzusperren. Unter meinen Lidern läuft ein Erinnerungsfilm ab. Jemand hat einen Projektor in meinem Kopf eingeschaltet, vielleicht war ich es selbst. Ich sehe Tom im Indianerkostüm über das Schuldach rennen, mit ausgebreiteten Armen ins Leere springen und in einem Feigenbaum landen. Ich sehe ihn mit Rollschuhen Fußball spielen, sein Lieblingsstunt, der immer in einem Wirrwarr aus Armen und Beinen endete. Ich sehe ihn mit verbogenen, nur von Heftpflastern zusammengehaltenen Flügeln durch die Krankenhausflure geistern, und zwar ohne Tropf.
    Seine Augen fixieren mich. Tom hüpft noch einmal über meine Handflächen. Dann wendet er sich dem Horizont zu. Ich gebe mir alle Mühe, tapfer weiterzupfeifen. Spüre seine samtweichen Federn an meiner Haut. Plötzlich weht ein Wind über meine Handflächen. Er ist fort.
    Meine Finger krümmen sich zusammen. Er ist fort. Er fliegt mit schnellen Flügelschlägen davon, ohne sich umzuschauen. Meine Damen und Herren, Tom Cloudman führt seinen letzten großen Stunt vor, ohne Netz und doppelten Boden. Ich bin stolz auf ihn. An diesem Gefühl will ich mich festhalten, aber es gelingt mir nicht. Tom gewinnt an Höhe und dreht Kreise über dem Krankenhaus. Seine Metamorphose ist abgeschlossen. Er braucht mich nicht mehr. Die Rote Bete kann ihm jetzt nicht mehr folgen. Niemand kann das. Zur Sicherheit pfeife ich noch eine Weile weiter.
    Jahre später wird Tom Cloudman seine Leiche in eine Wolke pflanzen. Eines Winterabends wird er als Schneeflocke, die nicht schmilzt, zu uns zurückkehren. Ich werde da sein. Und ich werde die Einzige sein, die ihn erkennt.

Victor und ich haben uns Platten von Johnny Cash besorgt. Als Nächstes haben wir uns in einem Scherzartikelladen mit Ballons und Heliumflaschen eingedeckt. Die betagte Verkäuferin fragte, ob wir eine Geburtstagsparty für Sechslinge planten, und als ich ihr die Wahrheit sagte, lachte sie sich noch krummer, als sie ohnehin schon war. Die letzte Etappe unserer Einkaufstour führte uns in einen Sportladen, wo wir ein Schlauchboot der Marke »Sevylor« erstanden.
    An der Schwelle zum Himmel legten wir dein Boot mit Federn aus. Immer wieder betäubte Traurigkeit unsere Vorfreude. Auf deinen Wunsch hin hatte ich eine kurze Todesanzeige in die Tageszeitung gesetzt und die Trauergäste gebeten, kostümiert zu deiner Beerdigung zu erscheinen. »Bitte kommen Sie als Vogel oder Pelztier.« Dann musste ich nur noch einen Pfarrer finden, der bereit war, menschliche Tiere in seine Kirche zu lassen. Das war kein Kinderspiel. Zum ersten Mal verzogen meine Gesprächspartner das Gesicht, wenn ich Johnny Cash erwähnte. Ich betonte das »Cash« immer besonders, weil du es mir sicher für alle Ewigkeit übel genommen hättest, wenn auf deiner Beerdigung ein anderer Johnny gespielt worden wäre.
    Ich weiß, dass dir die Kirche schnuppe ist, aber wie Pauline in ihrer unvergleichlichen Art gesagt hat: »Sonst ist es nicht feierlich!« Außerdem ist die Kirche wichtig für alle, die nicht eng genug mit dir befreundet waren, um deine Entscheidung zu verstehen, dich aber gut genug kannten, um auf deiner Beerdigung um dich zu trauern.
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