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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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Geistern und mit Spielzeug. Er fragt mich, ob ich glaube, dass du kommen wirst. Ich dränge die Tränen zurück.
    Letzter Abflug in vier Minuten.
    Du hast deine Seele in tausend Stücke gesprengt und sie auf die Heliumballons verteilt, und jetzt soll ich mich darum kümmern?
    Letzter Abflug in drei Minuten.
    Ich sage mir, dass ein Teil von dir weiterlebt. Einen besseren Tod kann man sich nicht wünschen.
    Letzter Abflug in zwei Minuten.
    Mit feierlicher Miene blase ich die Heliumballons auf. Die Tiere drängen sich aneinander.
    Letzter Abflug in einer Minute.
    Ich beginne zu klatschen und bitte alle Anwesenden, es mir gleichzutun, um die Rettungsvögel aufzuwecken. Applaus brandet auf, lautes Zwitschern erfüllt die Voliere, die Leinen des Schlauchbootsargs straffen sich. Der Zoo steht geschlossen auf. Pauline tritt an die Schwelle zum Himmel und legt ihre weichen Arme um mich. Die Reibung des Stoffs verursacht ein elektrisches Knistern.
    Abflug.
    Ich hebe das Schlauchboot leicht an, bis es sich von der Erde löst und in den Himmel steigt. Das Publikum ist mucksmäuschenstill und lässt den Wind seine Arbeit machen. Ich halte den Atem an. Ich merke kaum, wie du dich aus meinen Armen stiehlst. Und merke es doch. Ich will mich an deinen fliegenden Sarg hängen, um bei dir zu bleiben, aber es ist helllichter Tag, und ich würde einen Absturz riskieren. Victor verfolgt deinen Start durch das Kaleidoskop, das du ihm geschenkt hast.
    Du fliegst für immer davon, rinnst uns durch die Finger, um dich im Himmel selbst wiederzufinden. Deine Gäste sehen blinzelnd zu, wie du aufsteigst, manche weinen, manche klatschen. Pauline schirmt die Augen mit einer Hand ab.
    Jetzt schwebst du hundert Meter über dem Krankenhausdach. Das Zwitschern der Vögel ist nicht mehr zu hören und auch sonst kein Geräusch. Du bist kaum noch zu sehen. Die Gäste verrenken sich den Hals. Der leise Wind, der dich fortträgt, streicht mir über die Haut. Dein Schatten verflüchtigt sich. Ich hätte ein größeres Schlauchboot kaufen sollen, dann wäre uns sein Schatten noch etwas länger erhalten geblieben, und ich hätte mich ein letztes Mal zu dir legen können, nur für einen kurzen Moment.
    Der Himmel verschluckt dich. Du bist nur noch ein schwarzer Punkt, ich kann dich nicht mehr sehen, meine Augen laufen über. Jemand soll dich zurückholen! Etwas von dir muss bleiben!
    Der Wind ist magnetisch, und obwohl es mitten am Tag ist, regt sich mein Vogelinstinkt. Er ergreift von mir Besitz wie während der Metamorphose. Dir folgen.
    Du bist nur noch ein winziger Fleck in der Ferne. Ich trete einen Schritt vor, zum Himmel hin, zu dir. In mir tobt ein Sturm. Ich kralle meine Fingernägel in den Himmel, der Fußball in meinem Bauch zieht mich nach vorn. Mein linker Fuß rutscht ab, das Nichts zieht mich an. Ich schließe die Augen, um dich besser zu sehen.
    Eine weiß behandschuhte Hand packt meinen linken Arm. Pauline zieht mich zurück ins Leben.

Epilog
    Ein Jahr später.
    Ich bin die glücklichste Mutter und traurigste Witwe aller Zeiten. Der Fußball wurde erst zum Basketball und dann zum Säugling. Du müsstest sehen, wie seine großen Augen leuchten wie zwei unergründliche Planeten. Er hat noch keine Augenbrauen, aber er runzelt sie schon wie du! Ich liebe dieses kleine Lebewesen für alles, was es ist, und für alles, was es sein wird. Er ist mehr als nur die Erinnerung an dich. Mein Glück und meine Trauer verursachen immer wieder einen Kurzschluss, sodass ich auf Abstand zu dir gehen muss. Allmählich lerne ich, welches die richtige Entfernung ist, um mich an dir zu wärmen, ohne mich zu verbrennen.
    Heute vor einem Jahr bist du davongeflogen. Zur Feier des Tages habe ich mir eine Flasche »Tom Cloudman« gegönnt. Vielleicht können wir in neun Monaten wieder Geburtstag feiern.
    Victor spielt großer Bruder. Ich glaube, er erzählt unserem Kleinen Spiderman-Geschichten. Ab und zu streut er Körner für dich auf sein Fensterbrett. Wenn er schläft, sammle ich sie ein, damit er glaubt, du hättest sie aufgepickt.

Dank
    Zwei Olivias – de Dieuleveult und Ruiz – haben mir bei dieser Suche nach der verlorenen Zeit geholfen. Ohne die beiden verrückten Hebammen hätte ich das Buch nicht ausbrüten können.

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