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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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Dann haben sie etwas, woran sie sich festhalten können.
    Schließlich fand ich einen alten Pfarrer mit einem eigenwilligen Sinn für Humor, der mir den Segen für unsere Tierbeerdigung gab. Er wohnt ganz allein in einer winzigen Kirche, die mit religiösem Kitsch vom Flohmarkt vollgestopft ist. Bei meinem Besuch spielte er mir Great Balls of Fire von Jerry Lee Lewis vor, aber in Moll, weil das besser zu einer Beerdigung passe, wie er mit halb geschlossenen Augen erklärte. Wäre er kein Priester, würde ich denken, er hätte mit mir geflirtet.

Sonnenstrahlen prallen von dem alten Wecker ab, der außen am Turm hängt und als Kirchenuhr dient. Die Glocke bimmelt müde, es klingt, als würde sie schmelzen. Ich stehe auf dem Vorplatz und verteile Tierkostüme an alle, die keine Zeit hatten, sich eins zu besorgen, weil sie die Todesanzeige erst gestern gelesen haben. Die Trauergäste ziehen mit gesenktem Blick und schlecht sitzenden Kostümen an mir vorbei.
    Vielleicht wolltest du uns das triste Schwarz ersparen, weil es dich auf Beerdigungen immer deprimiert hat. Ich wüsste gern, wessen Tod du beweint hast. Du konntest mir nicht mehr viel von dir erzählen. Ich hasse die mangelnde Flexibilität der Zeit.
    Victor hat sich als Mensch verkleidet. Er weigert sich, dein Stuntman-Kostüm auszuziehen. Pauline hat sich tapfer in einen Storchenanzug gezwängt. Eine schöne Idee, nur leider halten sie alle für eine Gans. Deine Hilfsschwester hat ein Tigerkostüm an, das ihr viel zu groß ist, sie sieht aus wie einer dieser überzüchteten Faltenhunde. Die beiden Riesen, die dir immer Federn geliefert haben, tragen elegant geschnittene Eisbärenkostüme. Selbst die alte Dame, der du das Schienbein zertrümmert hast, ist gekommen, den Gips kampflustig von sich gereckt. Sie trägt ein Bienenkostüm mit Tüllflügeln. Ihr dünner Körper zittert, als bestäube sie eine unsichtbare Blume. Eine umwerfende Krankenschwester im Catwoman-Dress schiebt den Rollstuhl, ich bin ganz froh, dass du ihr nicht begegnest.
    »Wenn ich dich in der Steinzeit kennengelernt hätte, hätte ich vor Begeisterung über deinen Po das Rad erfunden!« Diese Worte hast du mir nach einer langen Liebesnacht zugeflüstert. Mit meinem Ballonbauch bin ich sicherlich nicht mehr ganz so inspirierend. Ich sehe aus wie ein fetter Truthahn, vor allem im Vergleich zu den Schönheiten, von denen ich heute umgeben bin. Hier ein Mäuschen, das sich als Hase auf Stöckelschuhen verkleidet hat, dort ein als Maus kostümiertes Häschen. Aber es gibt auch Krokodilmänner, Hunde mit Schlappohren bis zum Boden und zerzauste Vögel, die in zu engen Kostümen stecken. Die ganze Arche Noah ist vertreten. Neugierige Passanten bleiben vor dem Eingang stehen und fragen mich, ob in unserem Film ein berühmter Schauspieler mitspielt. Ich verneine.
    Die Zeremonie beginnt. Die Trauergäste stehen auf, und wer eine Maske trägt, nimmt sie ab. Als dein aufblasbarer Sarg hereingetragen wird, geht ein Raunen durch die Menge. Die Stille verdichtet sich, in der Kirche wird es kalt, mein Trommelfell vibriert bei jedem Schritt der Sargträger. Niemand wagt mehr zu atmen, niemand denkt noch ans Atmen.
    Jetzt hat der Pfarrer seinen großen Auftritt. Das Eichhörnchenkostüm passt ihm wie angegossen. Als Erstes stimmt er Hurt von Johnny Cash an, und einige Frauen fallen in den Gesang ein. Er singt inbrünstig wie ein Priester aus dem Wilden Westen, der Pelz auf seinem Kopf wogt hin und her. Dann beginnt er mit der Predigt. Ein Hase springt auf und ruft » Yes! «, macht eine entschuldigende Bewegung und setzt sich wieder. Der Pfarrer erzählt von deinem letzten und besten Stunt. In meinem Kopf regnet es, obwohl am Himmel keine Wolke zu sehen ist. Ich fühle mich wie Lava auf Eis, wie eine Schneeflocke im Feuer. Ich will die Zeit zurückspulen und alles, was wir erlebt haben, noch einmal erleben, immer wieder, sooft wie es nötig ist, um dich zu retten und bei mir zu behalten. Aber die Zeremonie geht weiter, sie ist noch nicht vorbei.
    Der Zoo verlässt die Kirche. Nächster Halt: die Voliere auf dem Krankenhausdach. Die Gäste strömen in Scharen herbei wie zur Party eines hohen Tiers. Alle setzen sich im Schneidersitz auf den Boden. Ich lasse mich am Vogelklavier nieder und singe Ain’t No Grave von Johnny Cash. Das Lied stampft wie ein alter Zug. Letzter Abflug zum Himmel in fünf Minuten, ich wiederhole, in fünf Minuten.
    Victor füllt dein Schlauchboot mit Büchern, Fotos von Träumen und
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