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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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verabschiedet.
    Edinburgh und seine steilen Straßen machen eine Metamorphose durch. Die Springbrunnen gefrieren zu Blumensträußen aus Eis. Der Raureif zaubert glitzernde Pailletten auf das Fell der Katzen, und die Bäume erinnern an dickleibige Feen in weißen Nachthemden, die ihre Äste recken und strecken, den Mond angähnen und seelenruhig zusehen, wie die Kutschen über das vereiste Straßenpflaster schlittern. Es ist so bitterkalt, dass Vögel im Flug erfrieren und tot vom Himmel fallen. Ihr Aufprall ist unheimlich sanft für ein Geräusch des Todes.
    Es ist der kälteste Tag aller Zeiten. Heute ist der Tag, an dem ich geboren werde.
    Schauplatz ist ein altes Haus, das auf dem höchsten Hügel von Edinburgh balanciert. Hier lebt die wunderliche Doktor Madeleine, eine Hebamme, die bei den Einwohnern der Stadt als verrückt gilt. Für eine Dame ihres Alters ist sie erstaunlich hübsch. In ihren Augen glimmt noch immer ein Funke, nur ihr Lächeln zuckt, als hätte es einen Wackelkontakt.
    Doktor Madeleine bringt die Kinder von Huren und verlassenen Frauen zur Welt – und von Frauen, die zu jung oder zu untreu sind, um unter besseren Umständen zu gebären.
    Neben den Geburten hat Doktor Madeleine noch ein weiteres Steckenpferd: Sie repariert mit Hingabe Menschen. Sie ist Expertin für mechanische Prothesen, Glasaugen und Holzbeine. In ihrer Werkstatt gibt es alles, was das Bastlerherz begehrt.
    Während meine blutjunge Mutter in den Wehen liegt, sieht sie aus dem Fenster und beobachtet geistesabwesend, wie draußen Flocken und Vögel lautlos zu Boden fallen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, das bloß so tut, als sei es schwanger. Aber sie ist melancholisch, denn sie weiß, dass sie mich nicht behalten wird, und sie wagt es kaum, auf ihren prallen Bauch hinabzusehen. Als ich immer eiliger hinausdränge, schließt sie langsam die Augen, und ihre Haut verschmilzt mit dem Laken, als sauge das Bett sie auf.
    Doktor Madeleine ist das Erste, was ich von der Welt sehe. Ihre Finger packen meinen kleinen Schädel, der die Form einer Olive hat, ein Rugbyball im Miniaturformat. Dann schmiegen wir uns gemütlich aneinander.
    Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.
    »Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.«
    Doktor Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.
    Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist.
    Draußen schneit es immer stärker. Silberner Efeu rankt bis unter die Dächer, und vor den Fenstern blühen Eisrosen. Katzen frieren mit den Pfoten an Regenrinnen fest und werden zu Wasserspeiern. Im Fluss ziehen gefrorene Fische Fratzen. Die ganze Stadt ist fest in der Hand eines Glasbläsers, der klirrende Kälte aushaucht.
    Binnen Sekunden sind die wenigen Passanten, die sich todesmutig vor die Tür gewagt haben, zu Eissäulen erstarrt, als hätte ein Gott ein Foto von ihnen gemacht. Manche, die beim Gehen zu viel Schwung hatten, gleiten noch ein Stück weiter – wie Balletttänzer bei ihrem letzten Auftritt. Sie sind beinahe schön: Engel aus Eis, deren Schals in den Himmel ragen, steife Tänzerinnen einer Spieluhr, die sich immer langsamer dreht. Überall in der Stadt spießen sich Passanten – manche erfroren, manche kurz davor – an den Eisdornen der Springbrunnen auf.
    Allein die Turmuhren lassen das Herz der Stadt weiterschlagen, als wäre nichts geschehen.
    ›Dabei haben mich alle davor gewarnt, hierherzukommen. Sie haben mir gesagt, dass die Alte verrückt ist‹, denkt meine Mutter.
    Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt.
    Eine alte schwarze Katze sitzt nebenan auf dem Küchentisch. Doktor Madeleine hat ihr eine Brille gebastelt: sehr elegant, mit grünem Gestell, passend zur Augenfarbe. Die Katze beobachtet uns mit blasierter Miene – fehlen nur noch Zigarre und Zeitung.
    Doktor Madeleine durchstöbert ein Regal mit mechanischen Uhren. Sie nimmt verschiedene Modelle zur Hand: eckige mit harten Konturen, rundliche mit Holzgehäuse und protzige aus
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