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Der Engel auf der Fensterbank

Der Engel auf der Fensterbank

Titel: Der Engel auf der Fensterbank
Autoren: J. Walther
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    I
    Der Engel saß auf der Fensterbank im dritten Stock. Die Luft war winterlich kalt, doch er fror nicht. Der eisige Wind trieb ein paar Schneeflocken vor sich her, doch den Engel störte die Kälte nicht.
    Gebannt starrte er in die Welt hinter dem Fenster, das Zimmer war hell erleuchtet, es sandte ein warmes Licht aus und wirkte behaglich. Doch der Engel kannte die Bedeutung des Wortes behaglich nicht, denn für ihn war ein Stein genauso gemütlich wie ein Sofa.
    Aber was ihn wirklich an dem Zimmer fesselte, waren nicht die Lichter oder die große Couch, sondern ein Mensch, ein Mann, der in dem Zimmer hin- und herging. Er erschien dem Engel als das schönste Wesen auf Erden, dabei strotzte der Himmel wahrlich von umwerfend schönen Gestalten. Aber diese perfekte Schönheit langweilte ihn schon lange. Der Mann hinter dem Fenster war schlank, nicht all zu groß und sein schwarzes kurzes Haar lichtete sich an der Stirn. Seine Augen wurden von einem Gestell mit Glasscheiben darin umrahmt.
    Der Engel beobachtete den Menschen oft, fasziniert davon, wenn er aufräumte, fernsah oder den Müll hinaus brachte. Manchmal flatterte er mit ein paar Flügelschlägen zu dem anderen Fenster und sah dem Menschen bei einer eigenartigen Verrichtung zu, bei der er sich verschiedene Dinge in den Mund schob.
    Manchmal stellte der Engel sich vor, dass er den Menschen kennen lernen könnte. Wenn das herauskäme, würde es ihn natürlich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, aber wer kümmerte sich schon um ihn.
    Den Engeln war der Kontakt mit den Menschen streng verboten, außer sie waren Schutzengel. Doch er war kein Schutzengel, eigentlich hatte er gar keine Aufgabe, irgendwie war er vergessen worden und so fühlte er sich immer ein bisschen verloren.
    Er besaß die Fähigkeit, seine Flügel den Blicken der Menschen zu verbergen. Er hatte keine Angst davor, dass ihn der Mann als das erkennen könnte was er war, aber er hatte Angst davor, dass er sich nicht für ihn interessierte.
    So saß er weiter Tag um Tag auf der Fensterbank, beobachtete den Mann und sah den Schnee fallen. Er hatte viel Zeit, den Menschen zu beobachten, denn er musste weder schlafen noch essen, noch sonst etwas tun, und an diesem Fenster zu sitzen war für ihn das Interessanteste, was er sich vorstellen konnte.
    Doch eines Tages war nichts so wie immer. Der Mensch lag auf der Couch unter einer dicken Decke. Er sah blass aus und stand den ganzen Tag nicht auf. Der Engel hatte schon davon gehört, dass die Menschen von schlimmen Krankheiten befallen wurden und er wusste, was ‘Tod’ bedeutet. Er kannte die Bedeutung des Wortes Verlust nicht, aber er spürte sie. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nicht unbegrenzt Zeit hatte, weil die Zeit der Menschen nicht unbegrenzt ist. Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn er nicht mehr zu diesem Fenster kommen könnte, weil das Licht dahinter verloschen war.

 
    II
    Er klingelte, und als sich die Wohnungstür öffnete, sagte er hastig: „Hallo, ich heiße Michael”, was eine glatte Lüge war, denn er war kein Erzengel und nur die hatten Namen. „Ich wohne oben”, was sozusagen nicht gelogen war, „ich habe gesehen, dass du krank bist, und so wollte ich dich besuchen.”
    Der Mann war etwas überrumpelt und ließ den schönen jungen Mann mit dem schulterlangen braunen Haar herein, obwohl er ihn noch nie im Treppenhaus gesehen hatte. Er fühlte sich zu schwach, um Fragen zu stellen, und legte sich gleich wieder auf die Couch.
    „Wie heißt du eigentlich?”, fragte der Engel.
    „Ich heiße Jonathan.”
    „Was für ein schöner Name, wie der Freund Davids in der Bibel.”
    „Findest du? Ich finde ihn ein bisschen altmodisch.”
    „Was hast du denn für eine Krankheit?”, fragte Michael.
    „Grippe.”
    „Ist das schlimm?”
    „Naja, es geht so.”
    „Kann man davon sterben?”, fragte der Engel besorgt.
    „Nur wenn man ganz viel Pech hat.”
    „Pech, so …”, sagte der Engel nachdenklich, denn er kannte die Bedeutung des Wortes Pech nicht, ebenso wenig wie die von Glück und so war er nicht beruhigt. „Kann ich denn etwas für dich tun?”
    Langsam fand Jonathan diesen jungen Mann, der ihm so plötzlich in den Schoß gefallen war, doch etwas merkwürdig. Wer war er eigentlich und wo kam er her? Seit wann interessierte sich hier ein Nachbar für den anderen und woher wusste er überhaupt von seiner Krankheit? Doch Jonathan war froh, nicht mehr allein auf seiner Couch liegen zu müssen, also sagte er: “Du
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