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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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so, als würde er ihn genau verstehen. Es ist ein schöner Anblick. Ein Kind, das durch eine schwere Krankheit zu früh erwachsen geworden ist, hat wieder Träume. Nichts anderes wollte Tom Cloudman erreichen.
    Tom schrumpft in meinen Armen, während Tom junior in meinem Bauch heranwächst. Es ist, als würde der Vater dem Sohn Platz machen. Die beiden Metamorphosen schreiten von Nacht zu Nacht fort. Ich bin mir zunehmend selbst im Weg.
    Heute Abend halte ich den schlafenden Victor im Arm, und Victor den schlafenden Tom. Vorhin wollte das Mondkind ihm ein Marionetten-Kostüm anziehen, das er bei den Spielsachen im Krankenhaus gefunden hat, aber Tom geriet in Panik, schlug mit den Flügeln und piepste verzweifelt. Daraufhin ließ ihn das Mondkind ganz behutsam wie ein Modellflugzeug fliegen. Die Dunkelheit rumort wie der Magen eines Wals. Ich muss Victor zurückbringen, bevor jemand auf die Idee kommt, ich hätte auch ihn entführt. Ich nehme Tom und drücke ihn an meine Brust, er ist ganz warm. Sein Herz schlägt so schnell, dass sein ganzer Körper vibriert. Sein Atem geht hingegen sehr langsam.
    Ich setze Victor auf seinem Bett ab.
    »Was wird aus ihm?«, fragt er mich leise.
    »Ein Vogel.«
    »Wie kann das sein?« Victor runzelt die Stirn.
    »Der Mensch, der er gewesen ist, verschwindet. Irgendwann wird er nur noch ein Vogel sein.«
    »Kann er dann noch denken? Wird er uns wiedererkennen?«
    »So wie ein Vogel uns eben wiedererkennen kann. Aber am wichtigsten ist, dass Tom als Vogel überleben wird.«
    »Und kommt er dann zu uns zurück?«
    »Ja, aber nicht als der, den du kennst. Die Rote Bete, die ihn zerfrisst, wird verschwunden sein, aber eben auch der alte Tom.«
    »Kann ich ihn vor dem Schlafen noch einmal halten?«
    »Ja, natürlich.«
    Victor nimmt Tom vorsichtig in beide Hände und setzt ihn sich auf die Knie. Er streicht ihm mit den Fingerspitzen über das Gefieder und pfeift ein paar Töne. Dann singt er ihm ein Lied vor, das einzige, das er kennt:
    Spiderman, Spiderman
    Does whatever a spider can:
    Spins a web, any size,
    Catches thieves just like flies.
    Look out:
    Here comes the Spider-Man.
    Er klingt fröhlich, obwohl seine Stimme zittert.

In den Fluren flammen die Neonlichter auf. Es ist sechs Uhr. Meine Federn beginnen sich zurückzuziehen. Wenn ich mich hier verwandle, stehe ich nackt im Zimmer eines Patienten! Victor reicht mir den schlafenden Tom, ich presse ihn gegen meine Brust und ergreife die Flucht. Unter meinen Füßen wird das Linoleum zur Rollschuhbahn. Die Krankenschwestern der Morgenschicht treten ihren Dienst an. Noch zwanzig Meter bis zur Treppe. Renne ich schneller, falle ich womöglich hin. Renne ich nicht schneller, laufe ich womöglich jemandem in die Arme. Tom schaukelt gurrend zwischen meinen Brüsten. Noch zehn Meter. Ich spüre, wie die Federn entlang meiner Wirbelsäule erzittern und meine Knie wie jeden Morgen weich werden. Seit ich schwanger bin, stecke ich die tägliche Metamorphose nicht mehr so leicht weg.
    »He! Sie da hinten! Was machen Sie da? Wer sind Sie?«, ruft mir jemand hinterher. Ich renne weiter, der Vogel in mir will fliegen, aber mein Körper ist nicht mehr dazu imstande. Ich habe Angst zu stolpern und nach vorne auf den Bauch zu fallen.
    »He! Bleiben Sie stehen!«, brüllt die Stimme. Ich erreiche das Treppenhaus und renne die Stufen zum Dach hoch.
    In meinem Nest dauert es eine ganze Weile, bis wir uns beruhigt haben, mein Atem und ich. Ich schließe die Falltür, die die Schwelle zum Himmel vom Krankenhaus trennt, und lausche. Meine Metamorphose ist fast abgeschlossen, ich fühle mich, als wäre ich einem Eisbad entstiegen und stünde ohne Handtuch da. Der kalte Morgenwind lässt mich erstarren. Ich befinde mich zur falschen Zeit am falschen Ort. Von unten ertönen Schritte. Wenn ich entdeckt werde, ist alles aus! Tom tippelt über die Federn am Boden, seinem winzigen Mund entschlüpft ein Gähnen. Die Schritte entfernen sich wieder. Glück gehabt.
    Ich stehe nackt vor einem fast fertigen Vogel, der mich offensichtlich immer noch begehrt. Das ist ein seltsames, aber beruhigendes Gefühl. Ich ziehe meinen Arztkittel an und betrachte Tom. Sein Kopf ist gerade so groß wie ein Tischtennisball, aber seine menschlichen Züge sind noch erkennbar. Sein Körper ist allerdings der eines Vogels. Ein Roter Kardinal mit Federhaube.
    Ich muss zum Dienst, aber ich habe Angst, dass er in meiner Abwesenheit davonfliegt. Ich bin versucht, ihn mir wieder zwischen die
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