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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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glänzendem Metall. Mit einem Ohr lauscht sie dem schwachen Schlag meines defekten Herzens, mit dem anderen dem Ticken der Uhren. Immer wieder runzelt sie die Stirn. Sie benimmt sich wie ein altes Mütterchen, das eine halbe Ewigkeit braucht, um auf dem Markt eine Tomate auszusuchen. Plötzlich hellt sich ihre Miene auf.
    »Natürlich! Diese hier!«, ruft sie und streicht zärtlich über eine alte Kuckucksuhr.
    Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz.
    »Etwas Solides«, denkt Doktor Madeleine laut.
    Der winzige Kuckuck ist nicht größer als die Kuppe meines kleinen Fingers. Er hat ein feuerrotes Federkleid und tiefschwarze Augen. Mit seinem ewig aufgesperrten Schnabel wirkt er wie tot.
    »Diese Uhr wird ein gutes Herz abgeben! Außerdem passt sie zu deinem Vogelköpfchen«, sagt Madeleine zu mir. Die Sache mit dem Vogel schmeckt mir nicht. Aber da Madeleine versucht, mir das Leben zu retten, will ich mal nicht so sein.
    Sie streift eine weiße Schürze über: Jetzt geht’s ans Tranchieren. Ich fühle mich wie ein Brathähnchen, das man vergessen hat zu töten. Madeleine kramt in einer Salatschüssel, setzt eine Schweißerbrille auf und bindet sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, das ihr Lächeln verbirgt. Sie beugt sich über mich und lässt mich Äther einatmen. Meine Lider senken sich langsam, wie Rollos an einem lauen Sommerabend in einem fernen Land.
    Doktor Madeleine schneidet mir mit einer großen Zackenschere den Oberkörper auf. Die winzigen Zähne kitzeln ein wenig. Sie schiebt mir vorsichtig die Kuckucksuhr in den Brustkasten und beginnt damit, meine Schlagadern an das stillstehende Uhrwerk anzuschließen. Es ist eine heikle Arbeit, und Madeleine muss aufpassen, dass sie nichts beschädigt. Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. Ab und zu krampft sich mein schwaches Herz leicht zusammen, aber es pumpt nicht genug Blut durch meine Adern.
    »Er ist furchtbar blass!«, murmelt Doktor Madeleine.
    Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Madeleine zieht die Kuckucksuhr in meiner Brust mit einem kleinen Schlüssel auf und stellt die Zeiger auf Mitternacht. Sie wartet. Nichts geschieht. Das Uhrwerk ist nicht stark genug, um den Herzschlag auszulösen. Mein Herz steht schon gefährlich lange still. Ich bin in einem dunklen Traum gefangen, der mit jeder Sekunde dunkler wird. Doktor Madeleine spannt die Feder ein zweites Mal, um mein mechanisches Herz in Gang zu setzen.
    »Ticktack«, macht die Uhr.
    »Bubumm«, antwortet endlich das Herz, und die Arterien färben sich rot.
    Langsam beschleunigt sich das Wechselspiel von Ticktack und Bubumm. Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm. Mein Herz schlägt jetzt fast so schnell, wie es soll.
    Vorsichtig zieht Doktor Madeleine ihre Finger zurück. Das Ticken verlangsamt sich wieder. Sie dreht behutsam an den Zahnrädern, um dem Uhrwerk auf die Sprünge zu helfen, aber sobald sie loslässt, wird der Herzschlag schwächer. Es ist, als entschärfe sie eine Bombe, die jeden Moment zu explodieren droht.
    Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm.
    Draußen fallen die ersten Sonnenstrahlen auf den Schnee und stehlen sich durch die Fensterläden herein. Doktor Madeleine ist am Ende ihrer Kräfte. Ich bin eingeschlafen. Vielleicht stand mein Herz auch einfach zu lange still, und ich bin tot.
    Plötzlich erschallt ein »Kuckuck« aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen weit auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.
    Dann näht sie meinen immer noch offenen Brustkorb mit dem Geschick einer Schneidermeisterin wieder zusammen. Man sieht die Nähte kaum. Über das Zifferblatt und die perfekt eingepasste Holzfront klebt sie ein großes Pflaster. Von nun an muss meine kleine Uhr jeden Morgen mithilfe eines Schlüssels aufgezogen werden, sonst hat mein letztes Stündlein geschlagen.
    Meine Mutter sitzt immer noch reglos auf dem Bett. Sie meint, ich sähe aus wie eine große Schneeflocke mit Zeigern. Madeleine antwortet nur, so könne man mich im Schneegestöber wenigstens nicht aus den Augen verlieren.
    Es ist Mittag, als Doktor Madeleine meine Mutter verabschiedet, und wie immer lächelt sie im Angesicht der Katastrophe. Meine Mutter setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ihre Mundwinkel zittern. Sie
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