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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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ich meine Liebe zu Büchern. Einem Pärchen, das mir ein Buch geschenkt hatte, erklärte ich, wie viel mir dieser Austausch von Wörtern und Gefühlen bedeutete. Im Laufe der Zeit wurden es immer mehr Bücher. Da im Sarg bald nicht mehr genug Platz war, ich es aber nicht übers Herz brachte, auch nur eines wegzuwerfen, beschloss ich, sie stattdessen unter die Leute zu bringen. Sobald ich ein Buch ausgelesen hatte, schrieb ich hinten rein, ob und warum es mir gefallen hatte. Auf eine leere Seite vorne schrieb ich: »Wenn Sie dieses Buch finden, nehmen Sie es mit und lesen Sie es. Am Schluss schreiben Sie Ihre Gedanken dazu auf. Notieren Sie auch das Datum und den Fundort. Legen Sie es anschließend wieder irgendwo ab, wo jemand anderes es finden kann.« Manche Bücher fuhren mit dem Zug, andere kamen in den Regen. Manche waren eine Weile verschollen, andere lebten mit einer Handtasche zusammen. Eins kehrte sogar mit sieben Einträgen zu mir zurück.
    So zog ich mit meinem rollenden Sarg rastlos von Dorf zu Dorf und bekam gar nicht mit, wie ich alterte. Eines Tages ging mein Körper auf die Barrikaden. Die Gewerkschaft der gezerrten Muskeln meldete sich zu Wort. Erst war es nur ein leiser Protest, aber bald stimmten die Knochen mit lautem Knacken ein. Meine Nerven lagen blank, ich konnte nicht mehr schlafen. Zu spät wurde mir klar, dass ich lernen musste, meine Stürze abzufedern und weich zu fallen. Ich wusste, dass es so nicht weiterging, aber ich konnte nicht aus meiner Haut. Bei jedem Auftritt wollte ich sterben und wiedergeboren werden, das war eine Frage der Ehre! Alle Alarmglocken schrillten, aber ich schmetterte weiter meine Lieder, um sie zu übertönen und der Ewigkeit noch ein paar Sekunden abzutrotzen.
    Im Winter verkomplizierte sich die Sache weiter. Bei Kälte waren meine Stürze noch schmerzhafter als sonst. Die Zuschauerreihen lichteten sich. Immer öfter legte ich auch außerhalb der Vorführungen Bruchlandungen hin. Eines Tages nahm ich eine Kurve zu eng und raste in das Schaufenster einer Bäckerei. Eine Horde Kinder machte sich über die Windbeutel her, und das ganze Dorf glaubte, ich hätte den Unfall mit Absicht verursacht. Nachdem ich versehentlich mehrere Briefkästen, Tore und Seitenspiegel um- und abgerissen hatte, wurde der Sarg kurzerhand zum Fluchtwagen.
    Aber irgendwann erwischte man mich, oder besser gesagt, erwischte es mich. Am Tag nach einem besonders schweren Sturz ächzte ich bei Eiseskälte und in strömendem Regen einen steilen Hang hoch. Der Asphalt war spiegelglatt. Mir versagten die Beine, der Sarg begann rückwärtszurollen. Ich raste die Straße hinunter, schneller und schneller, und konnte weder steuern noch bremsen. Motorengeheul. Hupen. Zusammenprall von Blech und marineblauem Sperrholz. Hupen. Benzingestank. Hupen. Aufflatternde Michel Platinis. Hupen.
    * Johnny Cash ist ein amerikanischer Folksänger. Wenn man seine Stimme hört, will man sofort in den nächsten Zug steigen und verreisen.
    ** Michel Platini ist einer der größten Fußballspieler aller Zeiten. Seine Tore und mehr noch seine Pässe machten ihn zu einem Superhelden.

ch öffne die Augen. Die Welt hat sich verändert. Statt nach Herbst riecht es nach Betäubungsmitteln und Kanti nensuppe. Der Asphalt hat sich in Linoleum verwandelt, mein prächtiger Sarg in ein einfaches Bett. Die Michel Platinis sind verschwunden und mit ihnen sämtliche Farben. Alles ist grau, die Fenster sind groß und abweisend. Die Schritte auf dem Linoleum hören sich an, als reiße man Pflaster ab. Die Patienten langweilen sich, einige weinen. Angehörige bringen Blumen und lächeln starr. Ihr Trick besteht darin, die Tränen in sich hineinfließen zu lassen. Weiße Kittel geistern durch die Flure.
    Willkommen auf der Krebsstation. Die Ärztin, die mir diesen Hammer übergezogen hat, erinnert mich an meine Mathe lehrerin, in die ich als Schüler verliebt war. Der gleiche mitlei dige Blick. Ich merkte, dass sie mich mochte, aber sie konnte mir einfach nicht helfen.
    Heute ist die Rechnung kinderleicht. Selbst jemand wie ich, der eins und eins nicht zusammenzählen kann, kapiert es auf Anhieb. Ich bin nicht wegen einer gebrochenen Rippe hier, sondern weil an meiner Wirbelsäule ein Tumor wuchert. Ohne dass ich es bemerkt hätte, ist in mir eine riesige Rote Bete herangewachsen. Die mir verbleibende Lebenszeit rinnt mir durch die Finger. Sie passt in einen Fingerhut. Einen verdammten Fingerhut.
    Ein verirrtes Flugzeug rast mir stumm in
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