Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945
Autoren: Leni Riefenstahl
Vom Netzwerk:
vorn Wittenbergplatz bis zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und zurück zum KaDeWe, in der Hoffnung, ihn vielleicht doch noch einmal wieder zu sehen. Kein anderes männliches Wesen interessierte mich, nur dieser eine. So war es - sehr zum Kummer eines anderen jungen Mannes, der mich auf der Eisbahn in der Nürnberger Straße kennengelernt hatte, als er mir half, die Schlittschuhe anzuziehen. Von da an folgte er mir jahrelang wie ein Schatten.
      Einmal hatten meine Freundin Alice und ich uns einen tollen Spaß mit ihm erlaubt, der bedauerlicherweise böse für ihn ausging. Unsere Turnstunde hatte eine neue Lehrerin übernommen, die noch nicht alle Schülerinnen kannte. Wir überredeten Walter Lubowski, so hieß mein Verehrer, sich als Mädchen zu verkleiden und mit uns zur Turnstunde zu gehen. Walter war so vernarrt in mich, daß er auch zu einem Löwen in den Käfig gegangen wäre, wenn ich es verlangt hätte. Er beschaffte sich eine blonde Perücke, Ohrringe und Mädchenkleider und setzte sich, weil er eine ziemlich große Nase hatte, eine Sonnenbrille auf. Die neue Lehrerin war fassungslos, als sie die tollen Riesenschwünge, die dieses Mädchen am Reck vorführte, sah, während wir das Lachen kaum unterdrücken konnten. Aber, kaum faßbar, sie merkte nichts. Wir nannten Walter «Wilhelmine» und zogen nach Schulschluß mit ihm in seinen Mädchenkleidern zum Café Miericke, in die Rankestraße an der Gedächtniskirche. Dort bestellten wir uns gemischtes Eis. Wir waren vier Mädchen im Alter von fünfzehn, während Walter schon siebzehn war.
      Das Malheur passierte, als der Ober zum Zahlen kam. Da wollte unser «Mädchen» gewohnheitsmäßig das Portemonnaie aus der Hosentasche ziehen. Um dahin zu gelangen, griff er unter seinen Rock. Die Augen des Obers sahen plötzlich die behaarten Schenkel eines Mannes. Walter sprang erschrocken auf und lief davon und wir ihm nach - ohne zu zahlen. Wir rannten die Tauentzienstraße hinunter bis zum KaDeWe. Dort verschwand Walter in einer Telefonzelle, um sich seiner weiblichen Aufmachung zu entledigen. Zum Glück war uns niemand gefolgt, so daß wir glaubten, es wäre noch alles gutgegangen. Aber es kam anders: Der arme Walter wurde zu Hause rausgeschmissen. Sein Vater hatte die Perücke und die ganze Mädchenkleidung im Zimmer seines Sohnes gefunden und angenommen, Walter sei ein Transvestit, was damals als eine ungeheure Schande galt. Wir alle waren über den Ausgang unseres harmlosen Scherzes sehr betroffen. Auf den Gedanken, seinen Vater aufzusuchen und den Irrtum aufzuklären, kamen wir allerdings nicht. Wir waren zu jung, zu gehemmt, und Walter hatte uns seinen Vater als wahren Teufel geschildert. So blieb uns nichts übrig, als unserer «Wilhelmine» zu helfen, vor allem mit Lebensmittelkarten, die besonders Alice beschaffte, da ihre Eltern ein großes Restaurant hatten, das «Rote Haus» am Nollendorfplatz. Es war Krieg, und alles war rationiert. Zum Glück war Walter auch allgemein sehr begabt, er hielt sich mit Nachhilfestunden über Wasser und schaffte trotz der für ihn so schwierigen Situation sogar noch sein Abitur. Wir haben ihn sehr bewundert. Über ihn werde ich noch einiges zu erzählen haben.
      Inzwischen waren wir in die Goltzstraße umgezogen, wohnten dort aber nur ein knappes Jahr, da die Wohnung meinem Vater nicht groß genug war. Er fand eine schönere in der Yorkstraße. Von dort aus fuhr ich meist in fünfzehn Minuten mit Rollschuhen zur Schule. Wenn sie aus war, machte ich häufig einen Abstecher zum Tiergarten, wo ich mit meinen Rollschuhkünsten das Publikum anlockte, bis die Polizei erschien und ich Reißaus nahm.
      Meine Freundin Alice, die ich erst viel später wiedersah, da sie nach Istanbul geheiratet hatte, erinnerte mich an allerlei Streiche. Sie wußte noch, daß wir zu Kaisers Geburtstag auf das Schuldach geklettert waren und die Fahne vom Mast herunterholten. Als der Kaiser aber einmal keinen Geburtstag hatte und es auch keinen Sieg zu fei ern gab, haben wir die Fahne gehißt, um schulfrei zu bekommen. Ich war damals schon schwindelfrei und kletterte aufs Dach wie ein Affe. Einmal malte ich, um die Schule zu schwänzen, Alice rote Punkte auf Hals, Arme und Gesicht. Zu dieser Zeit herrschte eine Rötel-Epidemie, und so schickte die Lehrerin Alice erschrocken nach Hause. Zwei Tage später bekam sie dann die Röteln wirklich.
      Alice fand mich mit meinen fünfzehn Jahren noch unglaublich naiv. Als mir einmal ein Junge einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher