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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945
Autoren: Leni Riefenstahl
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entfernt. Dichtes Schilf und Schmakeduzien umsäumten das Seeufer. Es gab dort eine Menge Frösche, und manchmal konnte man im dunklen Wasser sogar Ottern sehen. Einmal wäre ich bei meinen Schwimmversuchen fast ertrunken - ich hatte zuviel Wasser geschluckt. Merkwürdigerweise habe ich dabei keine Angst empfunden - es ging alles so schnell, bis ich bewußtlos wurde. Ich habe das noch genau in Erinnerung, und seitdem war mir das Wasser vertraut. In Rauchfangswerder bin ich oft weite Strecken geschwommen, meistens hinüber auf die andere Seeseite, wo Tante Olga, eine ältere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann ein großes Gartenrestaurant betrieb. Bei diesem Langstrecken-Schwimmen begleitete mich meist meine Mutter mit unserem Ruderboot.
      Mit zwölf durfte ich dem Schwimmclub «Nixe» beitreten, machte dort Kinderschwimmkämpfe mit und holte mir Preise. Nach einem Unfall mußte ich das Schwimmen eine Zeitlang unterbrechen. Im Freibad Hallensee übten wir Mädchen Kopfsprünge vom DreimeterBrett. Als ich mich dann einmal auf das Fünfmeter-Brett hinaufwagte und etwas zaghaft in die Tiefe schaute, bekam ich von rückwärts einen Stoß und stürzte mit dem Bauch voll auf die Wasseroberfläche. Die Schmerzen waren schlimm. Ich habe mich nie wieder auf ein Fünfmeter-Brett gestellt.
      Ohne meinen Vater um Genehmigung zu bitten, trat ich einem Turnverein bei, und das Turnen wurde bald meine große Leidenschaft. Barren und Ringe wurden meine Lieblingsgeräte. Doch auch hier hatte ich Unglück. Während ich an den Ringen einen Kopfstand machte, ließ jemand versehentlich die an der Wand festgehakten Seile los, und ich stürzte senkrecht in die Tiefe. Dabei habe ich mir fast die Zunge abgebissen und eine schwere Gehirnerschütterung bekommen. Dafür wurde ich nach den Regeln damaliger Erziehung von meinem Vater auch noch bestraft. Ich durfte nicht mehr turnen. Damit verschwand ein weiteres Vergnügen aus meiner Kindheit. Aber das verbotene Turnen wurde durch etwas anderes ersetzt: Rollschuhund Schlittschuhlaufen. Mein Drang, mich körperlich auszutoben, befriedigte allerdings nur die eine Seite meiner Neigungen. Trotz al ler Bewegungslust blieb ich eine Träumerin, die nach dem Sinn des Lebens suchte.
      Ich sträubte mich, Gedanken, Anschauungen und Meinungen der Erwachsenen zu übernehmen, da es oft vorkam, daß zwei Personen, die für mich als Kind gleich große Autoritäten darstellten, sich widersprachen und jeder haargenau das Gegenteil vom anderen behauptete. Darunter litt ich, denn wie sollte ich wissen, wer recht hatte. Doch damit begann für mich eine große Leidenszeit. Ich quälte mich mit allen möglichen Gedanken ab. Es ging vor allem um die Todesstrafe, die damals wegen der vielen Kinder-Sexualmorde heftig diskutiert wurde, und über Fragen der persönlichen Freiheit, aber es waren auch religiöse Themen, die mich sehr beschäftigten. Mit meinen Schulkameradinnen konnte ich darüber nicht sprechen, die hatten kaum Interesse daran, daher wurde ich schon ziemlich früh eine Einzelgängerin.
      Ich war zwölf, als ich in der Berliner Belle-Alliance-Straße mit ansah, wie ein kleines Mädchen überfahren wurde. Ich höre die Schreie der verzweifelten Mutter noch heute. In mir tobten schreckliche Gedanken. Wie konnte Gott so etwas zulassen? Was täte ich, wenn mir das gleiche zustieße? Würde ich das Leben verfluchen? Was hätte mir die Schönheit der Natur noch bedeutet, wenn ich plötzlich erblindet wäre oder nicht mehr laufen könnte?
      Meine Eltern wunderten sich über meine Blässe. Wochenlang aß ich kaum und grübelte in schlaflosen Nächten. Mein kindlicher Verstand sagte mir schließlich, daß das Böse in der Welt das Gute schon längst verschlungen hätte, wenn es wirklich das Stärkere wäre. Dann gäbe es schon lange keinen grünen Halm, keine Blume und keinen Baum mehr. In Billionen Jahren hätte das Böse genügend Zeit gehabt, alles zu zerstören und den Menschen das Leben zu nehmen, wenn es so zu verneinen wäre. Dann würde man nur dahinvegetieren, nur essen, schlafen und auf ein unberechenbares Schicksal warten. Doch in mir siegte die Zuversicht, und ich fühlte mich plötzlich wie befreit. Ich wußte, daß ich zum Leben «Ja» sagen würde - immer - ganz gleich, was kommen würde.
      Von nun an betete ich jeden Abend vor dem Schlafengehen, daß Gott mir die Kraft geben möge, alles, aber auch alles zu ertragen, was mir das Schicksal auferlegen würde, und nie das Leben zu
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