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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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2
    Im Innern des Kasinos fand nichts davon statt. Nichts dringt dort hinein. Alles bleibt, wie es ist, die Drehlichter, das elektronische Rattern von Automaten, das Würfelklappern in Bechern an den Craps-Tischen, ein fast unhörbares Flüstern von Karten, das reibungsfreie Surren der kreisenden Roulette-Räder. Nichts darf sich ändern.
    Es ist eine Art Hölle fünfter Klasse, der ich als Unterdämon zugewiesen bin. Ein Sukkubus, zu gleichgültig, um zu saugen. Natürlich habe ich meine Stammkunden. Karl zum Beispiel. Pilot im Ruhestand, hat er gesagt, glaube ich. Manche würden ihn gut aussehend finden, auf diese vierkantschädelige Art, die alle Piloten haben. Silberhaar und ein zu runzligem Leder verbranntes Gesicht. Ich gebe ihm Karten aus. Er verliert Geld. Manchmal gewinnt er natürlich auch, aber nie lange.
    »Mae«, sagt er. Sein schwacher deutscher Akzent lässt den Namen ein bisschen bedrohlich klingen. Es dauert lange, bis man von den gepanschten Drinks, die hier kostenlos serviert werden, betrunken wird, aber Karl hat die erforderliche Ausdauer. »Wann machst du Feierabend, Mae? Wann kommst du mit mir nach Hause?« Ich öffne meine bemalten Lippen, um ihm meine schönen Zähne zu zeigen, streiche den schwarzen Flügel meiner Haare zurück. Ich achte darauf, nicht nach oben zu der dunklen Halbkugel in der niedrigen Akustikdecke zu blicken, von wo Karl und ich mit einem Fischaugenobjektiv aufgenommen werden. Ich bin älter als Karl, vielleicht sogar deutlich älter, doch ich schätze, er weiß das nicht.
    Ich lege meine Karten auf den Tisch: acht unter einundzwanzig. Schlechtes Blatt, aber Karl hat eine Karte zu viel genommen und sich überkauft. Vielleicht habe ich eine Doppelschicht gearbeitet, also sechzehn Stunden am Stück. Manchmal mache ich das. Ich werde nicht müde. Sogar in einer Hölle fünfter Klasse gibt es kein Zeitgefühl.
    Ich erinnere mich nicht, dass an diesem Tag irgendetwas ungewöhnlich war – ob weniger Leute da waren als normalerweise, ob das Kasino plötzlich leer wurde, ob draußen mehr Licht war. Nein, ich glaube, da war nichts dergleichen. Es spielt kaum eine Rolle, woran ich mich erinnere, denn mich wird keiner als Zeugin aufrufen, zumindest nicht dafür.
    Wahrscheinlich blieben noch zwei Stunden Dunkelheit, als ich in meinen Wagen stieg. Die Fahrt vom Kasino zu meiner Bude dauert kaum eine Viertelstunde. Ich höre kein Radio. Ich mag das Gequatsche nicht oder Musik mit Gesang, und ich höre auch nicht gern Gitarren oder Streicher. Vielleicht habe ich während der Fahrt im Dunkeln Klaviermusik gehört, Bach oder Chopin in Moll. Keine Stimme verriet mir, welcher Riss an diesem Tag durch die Welt gegangen war. Als ich in die Wüste lief, wusste ich noch immer nichts davon.

3
    Die Wohnwagensiedlung war ringsum mit einem Maschendrahtzaun abgeriegelt, aber ich hatte direkt hinter meiner Miniveranda ein paar Maschen mit einem Bolzenschneider durchtrennt, damit ich direkt in die Wüste gehen konnte, wann immer mir danach war. Wenn ich hindurchkroch, drückte ich die Handflächen gegen die spitzen Drahtenden, aber nicht so fest, dass sie die Haut verletzten, dann zog ich die Teile wieder zusammen, damit das Loch im Zaun nicht zu sichtbar war, falls irgendwer mal genauer hinschaute. Womit aber nicht zu rechnen war.
    In einem der Wohnwagen hinter mir brabbelte ein Fernseher, und in einem anderen weinte eine alte Frau; raue, hässlich würgende Schluchzer. Ich ging, bis die Geräusche verklangen, die Lichterpailletten von Boulder City im Rücken. Ich konnte bloß meine eigenen Gummisohlen hören, die auf dem bleichen Wüstensand knirschten, und selbst das kaum, denn ich ging sehr leise. Manchmal nahm ich das Gewehr mit, schoss aber nichts. In dieser Nacht hatte ich das Gewehr zurückgelassen, meine Hände waren leer.
    Ich schritt über die Spuren dicker Quadreifen und weiter südlich über die einer Seitenwinder-Klapperschlange, S S S. Die Schlange selbst war nirgends zu sehen. Die Wüste sah flach und leer aus wie der Mond. Der Mond, der echte, war nicht aufgegangen. Selene war nicht in ihren Wagen gestiegen.
    Die Sterne waren kalt und fern, und ich stand unter ihnen, die Knie leicht gebeugt und mit dem Rücken zum Wüstenwind, der mir durch die Beine und die Hemdsärmel blies und mein dunkles Haar nach vorne ins Gesicht wehte. Im Norden blutete das diffuse Licht von Las Vegas in den Himmel und trübte die Sterne. Wut. Wut. Sie schwoll an und ebbte ab.
    Dann legte sich der Wind, und als
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