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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945
Autoren: Leni Riefenstahl
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verdammen, sondern Gott zu danken. Diese Erkenntnis wurde für mein späteres Leben eine unerschöpfliche Kraftquelle.

    Rauchfangswerder

    R auchfangswerder ist eine Halbinsel im Zeuthener See, südöstlich von Berlin; ihr gegenüber liegt an der Bahnstrecke Berlin-Königswusterhausen der Ort Zeuthen. Diese Gegend gehörte zu den schönsten in der näheren Umgebung der Reichshauptstadt.
      Dort hatten meine Eltern ein Grundstück, unmittelbar am See gelegen, mit einer herrlich verwilderten Wiese. Man hatte sie glücklicherweise im Urzustand belassen. Am Ufer standen große Trauerweiden, ihre Äste reichten bis ins Wasser. In ihrer Nähe hatte ich mir eine winzige Strohhüte gebaut, die von einem kleinen Garten umsäumt wurde.
      Auf einer kleinen Fläche des Grundstücks pflanzten meine Eltern allerlei «Nützliches» an: Obst, Gemüse, Kartoffeln. Mein Vater war hier viel friedfertiger als in der Stadt. Er angelte unverdrossen stundenlang und forderte mich oft auf, mit ihm Schach oder Billard zu spielen. Selbst als «Dritten Mann» rief er mich manchmal zum Skat.
      Um mich ganz abzuschirmen, hatte ich um mein Hüttchen einen Zaun aus mannshohen Sonnenblumen gepflanzt. An diesem Platz habe ich viel geträumt.
      Eine Zeitlang glaubte ich, es müßte schön sein, Nonne zu werden. Die Abgeschlossenheit der Klöster, ihre friedlichen Gärten, gefielen mir. Andererseits hatte ich noch immer Spaß an den wildesten Spielen. Mit den Kindern unserer Nachbarn, einer Bande Jungen und Mädchen, kletterte ich auf Bäumen herum, schwamm, ruderte und segelte um die Wette. Nichts war mir zu hoch, zu steil oder zu gefährlich. Dazwischen zog es mich immer wieder in mein Gartenhäuschen, wo ich Gedichte und Theaterstücke schrieb. Ich war hier in die Natur geradezu vernarrt, und so kamen nicht Menschen in meinen Versen vor, sondern Bäume, Vögel, sogar Käfer, Raupen und Bienen.
      Im ersten Schuljahr in Berlin-Neukölln, wohin meine Eltern vom Wedding zum Hermannsplatz umgezogen waren, hatten wir Mädchen besonderen Spaß daran, manchmal auf dem Obst- und Gemüsemarkt Äpfel zu klauen. Fast immer war ich die Anführerin. Wir kippten, wenn die Situation günstig war, die Körbe um und holten uns dann einige der davonrollenden Äpfel. Als ich einmal dabei erwischt wurde und mein Vater davon erfuhr, verprügelte er mich fürchterlich und sperrte mich einen ganzen Tag lang in ein dunkles Zimmer. Auch bei anderen Gelegenheiten bekam ich seine Strenge zu spüren.
      In der Zeit, als wir am Hermannsplatz wohnten, hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Damals trieb sich in Berlin ein Lustmörder herum. Er wurde jahrelang nicht gefaßt. Er mordete Kinder und schlitzte ihnen den Bauch auf. Wir hatten alle große Angst vor ihm. Eines Abends sollte ich für meinen Vater Bier holen. Die Kneipe war nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt. Mit einem Syphon - so wurden damals die Bierkrüge mit Deckelverschluß aus weißem Porzellan genannt - lief ich die Treppe hinunter. Plötzlich stockte ich. Vor einem Treppenhausfenster stand ein Mann, mit dem Rücken zur Treppe gewandt. Er wirkte so unheimlich, weil er sich vor das Fenster gestellt hatte, durch das man aber in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Als ich hinter seinem Rücken vorbeihuschte, blieb er bewegungslos stehen. Ich hatte große Angst und dachte, hoffentlich ist er nicht mehr da, wenn ich zurückkomme.
      Mit dem gefüllten Syphon stand ich vor der Tür unseres Hauses. Ich wagte nicht, es zu betreten. Was sollte ich tun? Meine Eltern konnte ich nicht verständigen. Telefon hatten wir nicht. Nachts auf der Straße bleiben wollte ich auch nicht. So entschloß ich mich schließlich doch, nach oben zu gehen. Der Mann stand breitbeinig in genau derselben Stellung da wie vorher. Starr und schweigend schaute er auf das dunkle Fenster. Ich umklammerte meinen Bierkrug und rannte rückwärts, so schnell ich konnte, an ihm vorbei, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Doch ich kam nicht weit. Er packte mich hinten am Mantelkragen, ich ließ den Bierkrug fallen und stürzte auf die Treppe, laut um Hilfe schreiend. Er legte seine Hände um meinen Hals und versuchte mich zu würgen, aber im gleichen Augenblick rissen einige Hausbewohner die Wohnungstüren auf. Der Lärm hatte sie alarmiert. Der Mann ließ mich los und flüchtete. Geblieben ist mir bis zum heutigen Tag ein Schock, wenn ich hinter mir Schritte höre.
      Meine Großeltern mütterlicherseits kamen aus Westpreußen. Sie
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